Blut und rote Seide
Polizisten.
In der Bibliothek verbrachte sie eine Stunde mit Katalogrecherche und bestellte dann einen Stapel Bücher und Zeitschriften.
Es war schon nach zehn, als sie mit einer Plastiktüte voller Bücher in ihr Büro im Restaurant Vier Meere hinaufstieg. Geschäftsführer Hua Shan war an diesem Morgen nicht zugegen. Er hatte sich zwei Tage freigenommen, um ein eigenes Geschäft aufzubauen, das er neben seiner Stelle als Geschäftsführer des Vier Meere zu betreiben gedachte.
Trotz der guten Lage stand es mit dem staatseigenen Restaurant nicht zum besten. Zwischen Sozialismus und Kapitalismus fällt der Schatten des Unterschieds, besagte eine moderne Redewendung – der Unterschied zwischen denen, die in die eigene Tasche, und denen, die für den Staat arbeiten. Das Lokal schrieb seit Monaten rote Zahlen. Es gingen bereits Gerüchte um, daß es künftig von einem persönlich haftenden Geschäftsführer betrieben werden sollte: das Lokal würde in Staatsbesitz bleiben, aber der Geschäftsführer wäre für Gewinne und Verluste verantwortlich.
Während das Klappern der Schöpflöffel und Woks zu ihr heraufdrang, versuchte sich Peiqin in dem winzigen Büro im Zwischengeschoß auf ihre Lektüre zu konzentrieren.
Es stimmte, was sie ihrem Mann gestern erzählt hatte; sie kannte sich tatsächlich nicht aus mit solchen Kleidern. In ihrer Schulzeit hatte sie derartiges nur in Filmen gesehen. Und danach, während der Kulturrevolution, nur auf Fotografien der ehemaligen »First Lady« Wang Guangmei, deren dekadenten Lebensstil man anprangerte, indem man sie mit zerrissenem roten qipao und aufgefädelten Tischtennisbällen als Parodie einer Perlenkette vor die Öffentlichkeit zerrte.
Angesichts des vor ihr ausgebreiteten Materials wußte sie nicht, wo beginnen. Sie blätterte nacheinander die Bücher durch, bis sie auf ein Schwarzweißfoto stieß. Es zeigte Eileen Chang, eine Schriftstellerin aus dem Shanghai der vierziger Jahre, die in den Neunzigern wiederentdeckt worden war. Sie trug einen geblümten qipao im Stil jener Tage. In einer Fernsehsendung hatte Peiqin kürzlich eine junge Moderatorin die Huanghe Lu entlangspazieren sehen. Ganz im Sinne der derzeitigen Retro-Welle hatte sie auf eines der alten Gebäude gedeutet und laut überlegt: »Vielleicht war es eines dieser malerischen Häuser, aus denen Eileen, angetan mit einem selbstentworfenen qipao , hinaustrat in diese romantische Stadt!«
Als selbsterklärte Modejournalistin hatte Eileen Chang Skizzen der damaligen Shanghaier Mode angefertigt, die am Ende des Buchs abgedruckt waren. Doch Peiqin war mehr an der persönlichen Lebensgeschichte dieser Autorin interessiert. Sie hatte früh zu publizieren begonnen und war mit ihren Shanghai-Erzählungen augenblicklich berühmt geworden. Ihre Ehe mit einem talentierten, aber notorisch treulosen Journalisten war gescheitert und von diesem später publizistisch schamlos ausgeschlachtet worden. Nach 1949 ging sie zunächst nach Hongkong, dann in die USA, wo sie einen verarmten amerikanischen Dramatiker heiratete. Doch auch diese Ehe war nicht glücklich, denn, wie es in einem Tang-Gedicht heißt »einem mittellosen Paar ist kein Glück beschieden«. Nach dem Tod ihres zweiten Mannes lebte sie zurückgezogen in einem Apartment in Los Angeles, wo sie erst kürzlich eines einsamen Todes starb. Man fand sie erst eine Woche später.
Peiqin erhoffte sich von ihrem Quellenstudium eine historische Perspektive auf Entwicklung und Popularität des qipao . Doch nach zwei Stunden war sie kaum klüger als zuvor. Sie fühlte sich allenfalls in ihrem Eindruck bestätigt, daß es sich bei dem Kleid um eine Mode für Frauen aus wohlhabenden oder gebildeten Kreisen handelte, jemanden wie die Schriftstellerin Eileen Chang, nicht aber für die arbeitende Bevölkerung, zu der Peiqin sich zählte. Während sie nachdenklich mit dem Finger auf einen der Bände trommelte, bemerkte sie ein winziges Loch in ihrem schwarzen Wollstrumpf.
In dem Moment klopfte es. Pan, der Koch und zugleich Peiqins Chef, stand mit einem dampfenden irdenen Gefäß in der Hand in der Tür.
»Extra für dich«, sagte er.
»Oh, danke.« Ihr blieb keine Zeit mehr, die Bücher mit all den aufgeschlagenen Fotos traditioneller Kleider beiseite zu räumen.
»Was liest du denn da?«
»Ich will mir ein Kleid nähen und vergleiche Schnitte.«
»Du bist wirklich vielseitig, Peiqin«, bemerkte er und setzte den Tontopf auf ihrem Schreibtisch ab. »Ich wollte schon länger
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