Blut und rote Seide
wissen.«
»Sie war ein braves Mädchen, fleißig und umgänglich. Ihr Tod hat uns alle schwer erschüttert. Wenn man etwas über sie sagen kann, dann allenfalls, daß sie zu viel gearbeitet hat.«
»Ich habe schon mit dem Nachbarschaftskomitee gesprochen. Dort hat man mir ebenfalls berichtet, daß sie sehr beschäftigt und selten zu Hause war. Wissen Sie etwas über ihre weiteren Jobs?«
»Dazu kann ich nichts sagen. Sie hat auch bei uns gelegentlich Überstunden gemacht, für die wir ihr den anderthalbfachen Stundenlohn bezahlt haben. Morgens hat sie als Zimmermädchen gearbeitet und anschließend in der Küche geholfen. Manchmal ist sie sogar abends eingesprungen. Sie mußte die Arztrechnungen für ihren Vater bezahlen. Unser Hotel beherbergt auch ausländische Gäste, deshalb müssen wir uns auf unser Personal verlassen können. Der Personalchef hat ihr so viele Stunden gegeben, wie sie wollte. Eine hübsche junge Frau kommt immer gut an bei den Gästen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Wir dulden hier keine unmoralischen Dienstleistungen. Aber eine Frau ihres Alters und Aussehens hätte ihr Geld auch anderswo verdienen können – sagen wir in einem Nachtclub –, und zwar sehr viel mehr als bei uns. Aber sie hat lieber hier ihre Überstunden gemacht.«
»Wissen Sie etwas über ihr Privatleben? Hatte sie einen Freund?«
»Keine Ahnung«, erwiderte der Manager und kam erneut ins Stottern. »Das geht mich auch nichts an. Sie war fleißig, wie gesagt, und hat nicht viel mit den Kolleginnen geredet.«
»Ist es möglich, daß sie ein Verhältnis mit einem der Hotelgäste hatte?«
»Genosse Hauptwachtmeister Yu, das hier ist kein First-Class-Hotel. Hier übernachten keine Leute mit dicken Brieftaschen. Was sie an unserem Haus schätzen, ist seine zentrale Lage und der günstige Preis – sie … äh … sind nicht auf Verhältnisse aus.«
»Wir müssen alle möglichen Fragen stellen, Genosse Empfangschef«, erwiderte Yu. »Hier ist meine Karte. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«
Der Besuch im Hotel war wenig ergiebig gewesen. Allenfalls hatte sich Yus Eindruck verstärkt, daß Jasmine keinen Lustmörder angelockt hatte, weder in ihre trostlose Gasse noch in dieses schäbige Hotel.
6
AUCH PEIQIN HATTE sich ihre Gedanken über den qipao -Mord gemacht.
Nicht nur, weil er so viele Rätsel aufgab, sondern weil es der erste Fall war, in dem Yu als Stellvertretender Leiter der Sonderkommission ermittelte.
Wie immer war sie sich der Grenzen ihrer Möglichkeiten bewußt. Sie hatte weder die Mittel, die den Polizeikräften zur Verfügung standen, noch die Zeit und die Energie. Sie würde das rote Kleid zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen.
Als Buchhalterin des Restaurants Vier Meere mußte sie nicht pünktlich von neun Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags tagtäglich in ihrem winzigen Büro sitzen. Auf dem Weg zur Arbeit betrat sie daher das Ladengeschäft einer Schneiderei. Der Betrieb war zwar nicht auf qipaos spezialisiert, doch sie kannte den alten Schneider. Nachdem sie ihm den Grund ihres Besuchs erklärt hatte, holte sie ein Foto des Kleides hervor.
»Die Ärmel und moderaten Schlitze wirken ziemlich altmodisch, das ist eher der Stil der sechziger Jahre«, sagte der weißhaarige Schneider und schob sich die Brille auf der kantigen Nase zurecht. »Ich bezweifle, daß so etwas heutzutage als Massenware hergestellt wird. Sieht nach Maßanfertigung aus. Dafür sprechen auch die kunstvollen Stoffknöpfe in Doppelfisch-Form. Allein die herzustellen, braucht es einen Tag.«
»Sie meinen also, daß das Kleid in den Sechzigern angefertigt wurde?«
»Kann man auf der Grundlage eines Fotos schlecht sagen. Außerdem habe ich selbst allenfalls ein Dutzend qipaos genäht, bin also kein Experte auf diesem Gebiet. Aber wenn mir eine Kundin den Stoff und ein Muster brächte, würde ich das schon hinkriegen.«
»Eine Frage noch: Ist Ihnen ein anderer Betrieb bekannt, der ein solches Kleid angefertigt haben könnte?«
»Da kommen einige in Frage. Außerdem gibt es noch Schneider, die kein Ladengeschäft betreiben, sondern zu ihrer Kundschaft nach Hause gehen.«
Das machte die Sache zusätzlich kompliziert. Solche Schneider wären durch polizeiliche Ermittlungen unmöglich zu erfassen.
Nach Verlassen des Geschäfts steuerte Peiqin die Shanghaier Bibliothek an. Wenn sie bei den Ermittlungen helfen wollte, mußte sie anders vorgehen als die
Weitere Kostenlose Bücher