Blut und rote Seide
Neureiche noch Tischfräulein. Wenn sie aufs große Geld ausgewesen wäre, hätte sie nicht in einem so bescheidenen Hotel gearbeitet.«
»Da haben Sie recht«, sagte Chen. »Wo sehen Sie also die Verbindung zwischen den beiden?«
»Hier ist eine Liste von Gemeinsamkeiten«, sagte Yu und zog ein aus einem Block gerissenes Blatt hervor. »Liao hat die meisten Punkte bereits abgeklärt.«
»Dann gehen wir sie mal durch«, sagte Chen und nahm die Liste.
1. Junge, hübsche Mädchen Anfang Zwanzig, unverheiratet, niedriges Bildungsniveau, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, im Unterhaltungsgewerbe arbeitend, möglicherweise auch als Prostituierte.
2. Beide trugen einen roten qipao . Die Seitenschlitze waren eingerissen, mehrere Knöpfe am Ausschnitt offen, Brust und Oberschenkel entblößt mit erotischem bis obszönem Effekt, obwohl die Kleider von exquisiter und eher konservativer Machart sind. Weder Unterwäsche noch Büstenhalter, widerspricht den üblichen Kleidervorschriften für qipaos.
3. Nackte Füße, Qiao mit rotlackierten Fußnägeln, bei Jasmine rosalackiert.
4. Keine von beiden wurde vergewaltigt. Obwohl die erste Leiche blaue Flecken und Abschürfungen aufwies, die auf Gegenwehr hindeuten, keine Spuren von Penetration oder Ejakulation nachweisbar. Die zweite Leiche hat keine Verletzungen, die auf sexuelle Gewalt schließen lassen. Die erste Leiche wurde gewaschen, die zweite nicht.
5. Öffentliche Fundorte, außerordentlich schwierig und gefährlich, die Leichen ungesehen dort zu deponieren.
»Haben Sie Fotos, die uns etwas über die Lebensgewohnheiten der beiden erzählen können?«
»Ja, vor allem von Qiao, sie hat sich offenbar gern fotografieren lassen.«
»Zeigen Sie her.«
Yu legte die Aufnahmen in einer Reihe auf den Tisch.
Chen studierte sie wie ein angehender Bräutigam das Angebot einer Heiratsvermittlerin. Es mochte Zufall sein, daß jedes der Mädchen sich im sommerlichen Volkspark hatte ablichten lassen; Jasmine im luftigen weißen Baumwollkleid, Qiao in gelbem Top und Jeans. Chen legte die beiden Bilder nebeneinander. Jasmine war die schlankere von beiden, vermutlich war sie auch ein Stück größer.
»Fällt Ihnen der Unterschied in der Figur auf, Yu?« sagte er, während er die Fotos anstarrte.
Yu nickte stumm.
Chen legte die beiden Bilder vom Fundort unter die beiden aus dem Volkspark.
»Shen sagt, ein richtiger qipao muß maßgeschneidert sein, da er die Figur betonen und die Kurven optimal zur Geltung bringen soll. Sehen Sie sich die Aufnahmen vom Fundort an. Beide Kleider sitzen wie angegossen. Wir sollten die Konfektionsgrößen der Opfer überprüfen, womöglich unterscheiden sie sich.«
»Wird erledigt«, warf Yu ein. »Aber wenn dem so ist …«
»Dann heißt das, daß er über einen Vorrat an teuren, altmodischen qipaos verfügt, die in Farbe, Stoff und Schnitt identisch sind. Aber er kann unter verschiedenen Größen wählen.«
»Vielleicht hat er sie für jemanden anfertigen lassen, den er liebte oder haßte«, bemerkte Yu. »Aber warum in unterschiedlichen Größen?«
»Das macht mich auch stutzig«, sagte Chen. Ein Widerspruch, wie in den Liebesgeschichten, die er analysierte.
»Was hat Shen Ihnen noch erzählt?«
Chen resümierte sein Gespräch mit dem betagten Wissenschaftler.
»Shens Einschätzung nach könnte der Mörder sie in den achtziger Jahren in Auftrag gegeben haben, und zwar im Stil einer noch früheren Epoche. Dann hat er sie aufbewahrt bis zu seinem ersten Mord vor zwei Wochen.«
»Warum hat er so lange gewartet?«
»Keine Ahnung, aber es könnte erklären, warum Sie keine aktuellen Hinweise auf die qipaos bekommen konnten. Es ist einfach zu lange her. Anfang der Achtziger hatte das Revival dieses Kleidertyps noch nicht begonnen, es dürfte also kaum derartige Konfektion gegeben haben; sie wurden also vermutlich von einem Schneider angefertigt. Und der kann längst verstorben, im Ruhestand oder verzogen sein.«
»Das hat Peiqin auch gemeint«, sagte Yu. »Wenn sie aber aus den sechziger und siebziger Jahren stammen, dann frage ich mich, wer sie getragen haben soll. Damals war doch Kulturrevolution. Peiqin erinnert sich nur an ein Beispiel, und zwar an ein Foto von Wang Guangmei, wie sie in einem zerrissenen qipao von den Massen kritisiert wurde.«
»Ja, das war so eine Art ›scharlachroter Buchstabe‹. Da hat Peiqin ganz recht«, sagte Chen. »Gibt es neue Theorien im Präsidium?«
»Liao hält noch immer an seinem
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