Blut und rote Seide
Täterprofil fest. Und die Theorie von der antimandschurischen Botschaft, die sich der Kleine Zhou zusammengereimt hat, kennen Sie ja. Er geht immer noch hausieren damit.«
»Kaum glaubhaft, auch wenn sich die Widersprüche dadurch erklären ließen. In einer Stadt wie Shanghai wäre es undenkbar für eine Frau, einen eleganten qipao ohne Schuhe zu tragen. Für den Mörder könnte dieser Widerspruch allerdings Teil eines bedeutungsvollen Rituals sein.«
»Widerspruch hin oder her«, sagte Yu, »ich glaube nicht, daß das Opfer zu der Art von Dreispartengirls gehörte, die Liao im Auge hat.«
»Und was sagt er zur Verbindung zwischen dem roten qipao und dem Sexgewerbe?«
»Liao nimmt an, daß eines dieser Dreispartengirls einen Kunden sitzengelassen oder geprellt hat. Womit der Mörder sein Handeln rechtfertigt und jedem seiner Opfer ein solches Kleid überzieht.«
»Aber was ist mit der hervorragenden Verarbeitung und dem konservativen Stil der Kleider? Ich bezweifle, daß sich ein Dreispartengirl eine solche Garderobe leisten kann. Und nachdem der Mörder sie derart aufwendig einkleidet, kann er sie doch kaum als so minderwertig ansehen.«
»Und wie erklären Sie sich das Kleid, Chef?«
»Es könnte Teil eines psychologischen Rituals oder einer sexuellen Phantasie sein und für den Mörder besondere Bedeutung besitzen.«
»Aber wie sollen wir hinter diese Bedeutung kommen, wenn der Mörder verrückt ist?«
»Liaos an materiellen Gesichtspunkten orientiertes Täterprofil mag vielleicht helfen, aber was wir brauchen, ist ein psychologisches Profil.«
»Ich habe Li gegenüber schon erwähnt, daß Sie Psychothriller übersetzt haben, aber er hört nicht auf mich.«
»In Lis Weltbild kommen Serienmorde nur in westlichen, kapitalistischen Gesellschaften vor, nicht im sozialistischen China.«
»Ein paar solche Krimis habe ich auch gelesen, aber mich nicht systematisch damit befaßt. Ich frage mich, wie diese psychologische Sichtweise uns im vorliegenden Fall helfen kann.«
»Hier in China? Das weiß ich auch nicht. Im Westen ist die Psychoanalyse gängige Praxis. Wer psychologische Probleme hat, ist meist irgendwo aktenkundig. Ärzte erstellen Gutachten über Verdächtige, und manche Polizisten haben eine Spezialausbildung. Ich habe nie Psychologiekurse belegt, bloß ein paar Artikel über Psychoanalyse gelesen, die ich für mein Literaturstudium brauchte. Und die Theorien und Vorgehensweisen in den Kriminalromanen kann man nicht ernst nehmen.«
»Erklären Sie mir trotzdem den psychologischen Ansatz dieser Bücher. Vielleicht läßt sich damit der Täterkreis ebenso eingrenzen wie durch Liaos Indizien.«
»Na gut«, begann Chen, »ein paar Punkte könnten sich auf unseren Fall anwenden lassen.«
»Bin ganz Ohr, Chef.«
»Die Identität des zweiten Opfers legt etwas nahe, das oft in solchen Büchern vorkommt: ein zielorientierter Serienmörder mit Zwangsneurose. Er hat eine tiefsitzende psychosexuelle Störung, ist psychotisch, aber nicht verrückt. Er meint, die Welt von Menschen befreien zu müssen, die er selbst für unerwünscht und wertlos hält, etwa die Dreispartengirls. Sein Ziel wäre es demnach, das Sexgewerbe zu schädigen, wobei er sich die verletzlichste und am leichtesten greifbare Gruppe als Opfer wählt. Wird ein solcher Täter am Ende gefaßt, so erweist er sich oft als respektabler Bürger, der durchaus in Liaos Profil paßt.«
»Dann könnte also doch was dran sein an Liaos Sichtweise«, überlegte Yu.
Die Bedienung kam mit einer Auswahl von Snacks auf einem Tablett an ihren Tisch. Chen wählte ein Stück Zitronenkuchen, Yu entschied sich für ein Dampfbrötchen, gefüllt mit gegrilltem Schweinefleisch. Das Café war ein Mix aus Ost und West, zumindest auf dem Snacktablett.
»Es klingt unwahrscheinlich«, fuhr Chen fort, »aber die Sexualmörder in solchen Krimis sind oftmals impotent. Sie erleben einen mentalen Orgasmus ohne körperliche Ejakulation. Deshalb findet die Spurensicherung keine Spermien an der Leiche.«
»Ja, und die Gerichtsmedizin hat inzwischen auch ausgeschlossen, daß Kondome benutzt wurden; das hätte Spuren an den Opfern hinterlassen. Also paßt unser Mörder bislang in dieses Profil. Beide Opfer wurden ausgezogen, aber nicht vergewaltigt, auch das spricht für einen Psychopathen.« Dann fügte Yu gedankenverloren hinzu: »In einem der Bücher, die Sie übersetzt haben, wurde der Täter als Kind mißbraucht. Entsprechend gestört war er als Erwachsener und
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