Blut und rote Seide
Geheimnis, über das niemand sprechen durfte, schon gar nicht in Verbindung mit einem so spektakulären Serienmord.
Und Chens psychologischen Ansatz hatte Yu im Präsidium gar nicht erst erwähnt, man würde ihn ohnehin nicht ernst nehmen. Psychologische Ansätze wären allenfalls hilfreich, wenn der Täter gefaßt wäre, nicht aber, solange er unbekannt und auf freiem Fuß war. Dennoch schlug Yu für Donnerstag nacht verstärkte Patrouillen durch die Nachbarschaftskomitees vor, und ausnahmsweise stimmte Li zu.
Yu wollte sich gerade die zweite Tasse Tee machen, indem er frische Oolong-Blätter in die alte Tasse gab, als das Telefon erneut klingelte.
»Kann ich mit Hauptwachtmeister Yu Guangming sprechen?« Es war eine unbekannte Stimme, vermutlich die einer Frau mittleren Alters.
»Am Apparat.«
»Mein Name ist Yaqin. Ich war eine Kollegin von Jasmine. Sie haben doch neulich mit unserem Empfangschef gesprochen.«
»Ja, stimmt.«
»Gibt es die Belohnung für Informationen über Jasmine noch?«
»Ja, zweitausend Yuan, falls sie zur Aufklärung des Mordes führen.«
»Jasmine hatte einen Freund. Sie hat ihn vor ein paar Monaten kennengelernt. Er steigt immer hier ab, wenn er aus den Vereinigten Staaten zurückkommt. Er ist Stammgast hier.«
»Das könnte uns weiterhelfen«, sagte Yu. »Können Sie mir Genaueres sagen, Yaqin?«
»Er heißt Weng. Er ist nicht reich, sonst würde er kaum hier absteigen, aber zumindest kann er es sich leisten, jeweils für ein paar Monate bei uns zu wohnen. Und er hat eine Green Card; für viele Shanghaier Mädchen wäre das Grund genug, sich an ihn ranzuschmeißen. Jedenfalls sind sich die beiden nähergekommen. Man hat sie gesehen, wie sie zusammen essen gingen und Händchen hielten.«
»Haben Sie sie zusammen gesehen?«
»Nein, aber ich habe beobachtet, wie Jasmine sich vor etwa einem Monat an einem Spätnachmittag in sein Zimmer schlich. Außerhalb ihrer Arbeitszeit.« Dann fügte sie noch hinzu: »Eine vernünftige Wahl. Er ist etwa fünfzehn Jahre älter, aber er hätte sie in die Staaten bringen können.«
»Ist Ihnen etwas Verdächtiges an ihm aufgefallen?«
»Nein, ich habe nichts bemerkt. Allenfalls daß er es vorzieht, im Hotel zu wohnen, obwohl seine Familie in Shanghai lebt. Das verstehe ich nicht. Niemand weiß, was er beruflich macht und wo sein Geld herkommt. Drei, vier Monate im Hotel, das kostet eine Stange Geld.«
»Als ich neulich mit dem Empfangschef sprach, hat er nichts von diesem Weng und seiner Beziehung zu Jasmine gesagt.«
»Vielleicht weiß er nichts davon«, erwiderte sie. »Außerdem hat das Geschäft unter dem Mordfall gelitten. Da möchte er weitere öffentliche Aufmerksamkeit vermeiden.«
»Wohnt Weng derzeit im Hotel?«
»Ja, er ist heute morgen angekommen und seitdem auf seinem Zimmer.«
»Ich bin sofort bei Ihnen. Wenn er herunterkommt, sagen Sie ihm bitte, daß er das Hotel nicht verlassen soll«, sagte Yu. »Sind Sie sicher, daß er die beiden letzten Wochen in den Staaten war?«
»Jedenfalls war er nicht hier, als sie starb, aber ich kann nicht sagen, wo er sich aufgehalten hat. Er ist mit seinem ganzen Gepäck heute morgen angekommen.«
»Könnten Sie in seinem Paß nachsehen? Besonders das Datum der letzten Einreise wäre wichtig.«
»Das dürfte kein Problem sein. Er läßt seinen Paß immer hier im Hotelsafe. Ich werde das für Sie überprüfen.« Dann fügte sie hinzu: »Aber ich möchte nicht, daß jemand sieht, wie ich Informationen an einen Polizisten weitergebe.«
»Verstehe. Ich komme in Zivil.«
Eine Dreiviertelstunde später betrat Yu in einer grauen Jacke, die Peiqin ihm gekauft hatte, die Hotellobby. Niemand schien ihn zu erkennen. Gleich darauf bemerkte er Yaqin, eine untersetzte Frau, die ihr Haar in einem altmodischen Haarknoten trug, obwohl sie nicht älter als Mitte Vierzig sein konnte. Sie steckte ihm eine Fotokopie des Passes zu. Daraus ging hervor, daß Weng am Tag des Mordes über Guangzhou ausgereist und erst heute zurückgekehrt war. Er hätte also kaum Zeit für den ersten Mord gehabt, keinesfalls aber für den zweiten.
»Vielen Dank, Yaqin«, sagte er. »Ist er noch im Haus?«
»Zimmer 307«, flüsterte sie ihm zu.
»Ich rufe Sie später an«, erwiderte er. »Dann können wir uns außerhalb des Hotels verabreden.«
Sie nickte und räumte dabei, ganz die gewissenhafte Hotelangestellte, einen vollen Aschenbecher von einem der Tische in der Lobby.
Yu betrat den Aufzug, der ihn in den dritten
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