Blut und rote Seide
berichtet.«
»Ich muß Sie in diesem Zusammenhang um eine Gefälligkeit bitten. Möglicherweise ist das Kleid einem Bild nachempfunden, das einigen der Mitglieder bekannt sein dürfte. Könnten Sie ein Foto davon an alle Ihre Zweigstellen faxen? Jede Information kann hilfreich sein.«
»Ich werde Kontakt zu allen meinen Ansprechpartnern aufnehmen. Aber jeder hat doch schon irgendwo einen qipao gesehen, entweder auf Fotos, im Kino oder auch real. Das ist ein weites Feld.«
»Das fragliche Kleid weist einige Besonderheiten auf, vielleicht haben Sie darüber in der Zeitung gelesen. Erstens ist es von hervorragender Qualität und Machart, dabei jedoch keineswegs modisch, es entspricht dem Stil der fünfziger oder sechziger Jahre. Zweitens war die Trägerin barfuß, und vermutlich gibt es eine Verbindung zu einem Blumenbeet oder einem Park.«
»Das grenzt die Sache ein«, erwiderte Wang. »Meine Sekretärin wird sich landesweit mit allen Zweigstellen in Verbindung setzen. Aber versprechen kann ich natürlich nichts.«
»Ich weiß Ihre Unterstützung zu schätzen, Vorsitzender Wang. Sie tun mir damit einen großen Gefallen.«
»Sie würden jederzeit dasselbe für mich tun«, erwiderte Wang. »Das haben Sie mir erst kürzlich bewiesen.«
Aber nicht wie beim letzten Mal, stöhnte Chen innerlich. Die Erinnerung daran machte ihm noch heute Kopfschmerzen.
Er klappte sein Mobiltelefon zu und wollte sich gerade eine Zigarette anzünden, als Yu mit großen Schritten das Café betrat.
»Ein ruhiger Ort, Chef«, kommentierte Yu die Tatsache, daß sie die einzigen Gäste im Café-Bereich waren.
»Gibt’s was Neues?« erkundigte sich Chen und schob seinem Partner die Speisekarte hin. »Irgendwelche Hinweise von den Nachbarschaftskomitees?«
»Nichts Brauchbares.«
Eine Bedienung kam an ihren Tisch und musterte die beiden neugierig. In seiner steifen, wattierten Baumwolluniform, mit wirrem Haar und staubigen Schuhen bildete Yu einen scharfen Kontrast zu Chen, der schon eher wie ein regulärer Gast aussah. Er trug einen schwarzen Blazer über khakifarbenen Hosen und hatte eine Aktentasche aus Leder dabei. Die jungen Liebenden in der Töpferei schickten sich zum Gehen an. Dieser plötzliche Entschluß hatte vermutlich mit der Anwesenheit eines Polizisten zu tun.
»Tee«, sagte Yu zu der Bedienung, bevor er sich entschuldigend an Chen wandte. »Ich kann noch immer keinen Kaffee trinken, Chef.«
»Das mit den Nachbarschaftskomitees wundert mich nicht«, sagte Chen, nachdem die Bedienung gegangen war. »Ein Mörder, dem es gelingt, zwei Leichen an derart öffentliche Plätze zu schaffen, wird sich kaum von den Nachbarn dabei zuschauen lassen.«
»Liao vermutet, daß er eine Garage hat, aber Li hat sich gegen eine Überprüfung aller Garagenbesitzer gesperrt.«
»Ich halte das mit der Garage nicht für zwingend.«
»Ach, und die Identität des zweiten Opfers konnte festgestellt werden. Qiao Chunyan. Ein Tischfräulein. Normalerweise im Restaurant Ming tätig.«
»Eines von diesen Dreispartengirls?«
»Ja, so verdiente sie ihren Lebensunterhalt, und so starb sie auch.«
Yu brauchte das nicht weiter auszuführen. Die sogenannten Dreispartengirls – junge Frauen, die Kunden zum Essen, Singen und Tanzen begleiteten – waren ein neuer Erwerbszweig und eine Neuschöpfung in der chinesischen Sprache. Das Geschäft mit sexuellen Dienstleistungen war nach wie vor verboten, blühte aber dennoch in vielfältiger Weise wie etwa beim Extraservice des Dreispartengirls. Das Gesetz konnte jungen Frauen schließlich nicht verbieten, mit Kunden zum Essen, Karaoke-Singen und Tanzen zu gehen, und vor dem, was danach geschah, verschlossen die Behörden wohlweislich die Augen. Die Mädchen hatten mit den berufsüblichen Risiken zu rechnen, bis hin zum Sexualmord.
»Dann haben sie also beide im Unterhaltungsgewerbe gearbeitet«, bemerkte Chen.
»Liao sieht darin ein mögliches Motiv. Er meint, der Mörder habe einen Haß auf solche Mädchen und deshalb die spektakulären Morde begangen«, sagte Yu. »Aber ich sehe keine Verbindung zwischen den beiden Frauen. Die zweite mag ihrem Mörder aus beruflichen Gründen in die Hände gefallen sein, aber bei der ersten liegt die Sache anders.«
»Stimmt, ihren Hintergrund haben Sie ja gründlich recherchiert.«
»Eine Hotelangestellte ist kein Dreispartengirl. Soweit ich weiß, war sie eine anständige, fleißige junge Frau. Sie hat auch in der Hotelkantine ausgeholfen, aber dort verkehren weder
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