Blut und rote Seide
stürmen. Hong, die auf der Polizeiakademie Shaolin Kungfu gelernt hatte, sollte also mit unerwarteten Situationen zurechtkommen, zumindest so lange, bis die Kollegen ihr zu Hilfe kamen. Außerdem würde sie regelmäßige Kontrollanrufe tätigen, sofern dies nicht zu auffällig wäre.
Wachtmeister Qi sollte sie begleiten, aber so tun, als kennte er sie nicht. Er würde die ganze Zeit im Ballsaal bleiben und in ständigem Kontakt zu den Kollegen stehen, dabei sollte er seine Kollegin decken und gleichzeitig nach Verdächtigen Ausschau halten.
Vor der Tür des Ballsaals waren außerdem zwei Wachen postiert. Wie erschöpfte Tänzer würden sie abwechselnd auf dem Sofa neben der Tür sitzen und sofort Meldung erstatten, falls Hong, allein oder in Begleitung, den Saal verließ.
Den dritten Stock konnte man für diesen Abend vernachlässigen, da es unwahrscheinlich war, daß der Täter eine der Russinnen ansprach, die kein Chinesisch verstanden und außerdem auf der Bühne beschäftigt waren. Li hatte jedoch darauf bestanden, daß sich auch dort ein Beamter in Zivil aufhielt.
Zusätzlich wurden einige Polizisten in der Nähe des Ausgangs an der Huashan Lu postiert. Einer war als Zeitungsverkäufer getarnt, der die Abendzeitung feilbot, eine andere als Blumenmädchen, ein weiterer Beamter spielte den fliegenden Fotografen, der Touristen Polaroid-Aufnahmen aufdrängte.
Yu und Liao blieben in ihrem vor dem Gebäude geparkten Lieferwagen. Dort saßen sie mit ihren Kopfhörern reglos wie Spielzeugsoldaten und malten sich alle möglichen Katastrophen aus.
Die erste halbe Stunde verlief ereignislos. Noch zu früh, dachte Yu, der durch das Wagenfenster das Joy Gate im Auge hatte. Erstaunt sah er eine junge Mutter auf dem Gehweg nahe dem Eingang knien. Zitternd vor Kälte in ihrer schäbigen Kleidung, das Haar zerzaust, hielt sie einen sieben oder acht Monate alten Säugling im Arm. Neben Mutter und Kind stand eine zerbrochene Schale mit ein paar Münzen auf dem Gehweg. Wenn jemand vorbeikam, machte die Mutter eine tiefe Verbeugung über einem vor ihr liegenden Pappschild, doch keiner der Gäste des Joy Gate beachtete sie.
Die Stadt zerfiel zusehends in zwei Hälften, eine reiche und eine arme. Das Trinkgeld für einen der Taxitänzer würde sie und ihr Kind einen Tag lang vor Hunger und Kälte bewahren. Yu überlegte gerade, ob er aussteigen und ihr ein paar Münzen in die Schale legen sollte, als ein Aufseher kam und die Frau wegjagte.
Wachtmeister Qi erstattete regelmäßig Bericht: »Alles bestens.« Yu konnte über das Mikrofon sogar hören, wie Qi gelegentlich Melodien mitpfiff, darunter auch Wann kehrst du zurück, Liebste, einer der beliebtesten Schlager aus den Dreißigern.
Hong nahm nur einmal Kontakt auf. »Ich bin schon mehrfach angesprochen worden«, berichtete sie.
Außerhalb des Lieferwagens gingen allmählich die Lichter an, mehr und mehr Gäste strömten in ausgelassener Stimmung dem Joy Gate zu.
In den Dreißigern hatte man Shanghai auch die »Stadt ohne Schlaf« genannt.
Ab Viertel vor neun hörten sie für eine Weile gar nichts von drinnen. Nach zwanzig Minuten bat Liao Qi um Rückmeldung. – Der nahm sofort Kontakt auf und erklärte, daß er zwischendurch einem Irrtum aufgesessen sei. Er hatte Hong acht Minuten zuvor im Ballsaal aus den Augen verloren, sie dann jedoch, nachdem er alles nach ihr abgesucht hatte, mit einem Drink in der Nische einer kleinen Bar sitzen sehen. Da er zugleich den Ballsaal beobachten mußte, hatte er sich an einem Tisch niedergelassen, von dem aus er die Bar und den Saal im Blick hatte.
»Keine Sorge«, versicherte Qi, »von hier aus habe ich alles unter Kontrolle.«
Es folgte eine weitere kurze Sendepause. Yu zündete Zigaretten für Liao und sich selbst an. Dann meldete sich Li. Es war bereits sein dritter Anruf im Verlauf des Abends, der Parteisekretär versuchte nicht, seine Unruhe zu verbergen.
Etwa zehn Minuten später rief Qi an und meldete mit Panik in der Stimme, die Frau an der Bar trage zwar einen rosa qipao , sei aber, wie er inzwischen entdeckt habe, nicht Hong.
Yu wählte die Nummer von Hongs Mobiltelefon, aber sie antwortete nicht. Vielleicht war die Musik so laut, daß sie das Klingeln nicht hörte. Liao versuchte es immer wieder, vergebens. Daraufhin verständigte Liao die Wachen vor dem Haupteingang. Keiner hatte sie herauskommen sehen. Sie versicherten, eine Frau im rosa qipao wäre ihnen bestimmt aufgefallen, also mußte sie sich noch im Gebäude
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