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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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wieder träumte wie ein junger Mann.
    Er beschloß, keine weiteren Gedanken daran zu verschwenden, statt dessen dachte er über die Ermittlungen in Shanghai nach. Mittlerweile war bereits Freitag. Er war versucht, im Präsidium anzurufen, entschied sich aber dagegen. Wenn er das täte, wären seine Ferien zu Ende, noch bevor sie richtig angefangen hatten. Er war nicht ein einziges Mal durch das Feriendorf spaziert, und für sein Referat hatte er auch noch nichts getan.
    Also rief er lieber bei Weißer Wolke an. Sie hatte nichts Neues über den Fall gehört und ermahnte ihn, seine Ferien zu genießen. Seiner Mutter, bei der sie kürzlich vorbeigeschaut habe, gehe es gut; er brauche sich also keine Sorgen zu machen.
    Er sah aus dem Fenster und brach zu einem Spaziergang am See auf.
    Draußen war es kalt, der See wirkte um diese Jahreszeit verlassen. Am Ufer hockte nur ein alter Angler, eingehüllt in einen abgetragenen Militärmantel. Der Bambuskorb neben ihm war leer. Er schien in Meditation vertieft, zumindest legte seine Haltung das nahe.
    Chen ging vorbei, ohne ihn zu stören.
    Dann blickte er zu den Bergen auf, die sich gegen den Horizont abzeichneten. Er meinte, in der Nähe das Rauschen eines Wasserfalls zu vernehmen. Als er sich umdrehte, sah er aus der Entfernung ein Licht in der Hand des alten Mannes aufblitzen.
    Es war vor dem Hintergrund der bewaldeten Hügel nur kurz sichtbar und gleich wieder verloschen. Ein Raunen lief durch das Kieferngehölz, ein langer, tiefer Seufzer des Windes, der ihn auf sonderbare Weise traurig stimmte. Er bog auf einen rutschigen Pfad ab, der sich durch Lärchengruppen und Farngebüsch schlängelte. Hier kam man nur langsam vorwärts. Chen gelangte auf eine Lichtung, deren Teppich aus Kiefernnadeln seine Schritte dämpfte. Bald darauf weitete sich der Pfad und gab den Blick auf einen Weiler frei.
    Dort herrschte schon in aller Frühe reges Markttreiben; die meisten der Käufer waren Touristen auf der Suche nach Souvenirs. Langsam drängte er sich durch die Menge und blieb schließlich vor einem Stand mit Totengeld stehen. In der Stadt galten solche Opfergaben für die Verstorbenen als Aberglaube und waren kaum zu bekommen.
    »Bald haben wir dongzhi «, mahnte der Händler, während er aus Silberpapier unablässig yuanbao – kleine Silberbarren – faltete. Silber schien das wichtigste Zahlungsmittel im Totenreich zu sein. »Auch drüben in der anderen Welt braucht man Geld, um sich warme Sachen zu kaufen.«
    Aus einem unerklärlichen Drang heraus kaufte Chen ein Bündel Totengeld. Er glaubte nicht an diesen Brauch, wohl aber seine Mutter, die hin und wieder welches für seinen verstorbenen Vater verbrannte, besonders an Festtagen wie dongzhi oder qingming .
     
    Zurück im Hotelzimmer nahm er seine Bücher und begab sich hinunter ins Schwimmbad.
    Die eine Wand der Schwimmhalle war völlig verglast, so daß die Schwimmer aus luxuriöser Wärme und Zurückgezogenheit die winterliche Aussicht auf See und Berge genießen konnten. Nachdem er ausgiebig geschwommen war, legte er sich in einen der Liegestühle am Beckenrand und begann zu lesen.
    Er hatte bei seinen frühen Englischstudien im Bund-Park die Fähigkeit entwickelt, sich auch im Freien ganz auf seine Lektüre konzentrieren zu können. Die stets wechselnde Kulisse hatte ihn nicht abgelenkt. Doch hier kam zu der spektakulären Aussicht der Anblick junger Mädchen hinzu, deren drahtige Körper im blauen Wasser Bahnen zogen, wann immer er von seinen konfuzianischen Klassikern aufblickte. Die Ironie dabei entging ihm nicht; Konfuzius hatte gemahnt: Der Edle beachtet nicht, was nicht im Einklang mit den Riten steht .
    Ganz gleich, ob im Einklang mit den Riten oder nicht, diese Kulisse erleichterte ihm seine trockene Lektüre. Sein verstorbener Vater war ein neokonfuzianischer Gelehrter gewesen, und konfuzianische Maximen hatten nach wie vor Einfluß auf den chinesischen Alltag, das hatte er bei dem bu -Bankett wieder beobachten können. Dennoch hatte er die konfuzianischen Klassiker, die während seiner Schulzeit aus den Klassenzimmern verbannt gewesen waren, nie systematisch studiert. Jetzt wünschte er, sich mehr mit seinem Vater unterhalten zu haben, dessen früher Tod es ihm versagt hatte, diese Traditionen an seinen Sohn weiterzugeben.
    Chen nahm sein Notizheft heraus. Seine bisherigen Aufzeichnungen legten eine Verbindung zu den konfuzianischen Riten nahe. Für Konfuzius waren diese Riten im täglichen Leben

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