Blut und rote Seide
vorherigen Einwände ordnete er die sofortige Überwachung aller Privatgaragen der Stadt an, wobei die Polizei von den Nachbarschaftskomitees unterstützt wurde.
Laut Zeitangabe auf dem Video waren erst fünfundzwanzig Minuten vergangen, seit der Täter mit Hong das Joy Gate verlassen hatte. Die Beamten hatten also gute Chancen, den Täter zu fassen, bevor er seinen Unterschlupf oder seine Garage erreichte. Sie gingen davon aus, daß er ihr noch den roten qipao überziehen würde.
Da kam ein Anruf vom Geschäftsführer des Hotels. Eine der Bedienungen berichtete, ein Mann mittleren Alters habe sich bei ihr erkundigt, ob an diesem Abend ein neues Mädchen da sei. Eine genaue Beschreibung des Gastes konnte sie nicht geben, nur daß er eine Goldrandbrille mit bernsteinfarbenen Gläsern trug. Weil er am Tisch saß, wußte sie auch nicht, wie groß er war.
Gleich darauf meldete sich ein Nachbarschaftskader. Er hatte am frühen Abend in einer schäbigen Seitenstraße einen Block nördlich des Joy Gate ein weißes Auto bemerkt – ein Luxusmodell, dessen Marke er nicht kannte. Es war auffällig, daß ein solches Fahrzeug dort parkte.
Doch all diese Hinweise nützten den Beamten in dem Moment wenig.
Die Zeit lief ihnen davon, und das Warten wurde mit jeder verstreichenden Minute unerträglicher. Obwohl der gesamte Polizeiapparat in Aktion war, hatten sie keinerlei Anhaltspunkte für ihr weiteres Vorgehen.
Gegen ein Uhr rief schließlich ein Beamter an, der unweit des Lianyi-Friedhofs im Stadtteil Hongqiao Patrouille gegangen war.
Der Friedhof wurde seit Jahren nicht mehr benützt, und erst kürzlich war beim Präsidium die Meldung eingegangen, daß Grabräuber dort ihr Unwesen trieben, weshalb man gelegentlich einen Streifenpolizisten dort einsetzte.
Vor etwa einer Stunde hatte einer der Grabräuber einen unerwarteten Fund gemacht: Die Leiche einer jungen Frau in rotem qipao . Wie viele seiner Kollegen war der Mann zutiefst abergläubisch. Er war schreiend davongerannt und von dem Streifenpolizisten aufgegriffen worden. Bei Erwähnung des roten Kleides hatte der Beamte sofort reagiert und Meldung erstattet.
Liao wollte eben den Einsatzwagen starten, als ein weiterer Streifenpolizist anrief.
»Unweit der Leiche wurde auch noch eine Hoteluniform mit dazugehöriger Kappe gefunden.« Dann fügte er hinzu: »Kommen Sie rasch. Der Grabräuber ist in Ohnmacht gefallen. Er glaubt, einem Geist begegnet zu sein.«
19
AM FREITAG MORGEN endlich erwachte Chen erfrischt und gestärkt.
Er fragte sich, wie er es geschafft hatte, fast zwei ganze Tage zu verschlafen. Vielleicht war das dem fabelhaften bu -Bankett zu verdanken oder einigen von dessen geheimnisvollen Kräuterzutaten? Der sachkundige Geschäftsführer hatte Chens gesundheitliche Probleme aufgrund von Gus Schilderung offenbar richtig diagnostiziert und eine entsprechende Speisenfolge zusammengestellt. In der traditionellen chinesischen Medizin, so erinnerte sich Chen, gab es Kräuter, die eine Erstverschlimmerung der Symptome bewirkten, damit der Körper besser damit zurechtkam. Chen war überarbeitet gewesen, und das Abendessen hatte es ihm ermöglicht, wirklich tief zu schlafen und das über Jahre angesammelte Schlafdefizit auszugleichen. Nun befanden sich yin und yang sowie die anderen Elemente seines Körpers wieder in Harmonie zueinander. Egal, welche Theorie dem zugrunde lag, er hatte sich jedenfalls seit langem nicht mehr so wohl gefühlt.
Dennoch erfüllte ihn eine gewisse Unruhe. Kurz vor Morgengrauen hatte er einen seltsamen Traum gehabt. Es saß in einem exotischen Garten und sah einer jungen Frau beim Striptease zu. Sie sang und tanzte wie eine verführerische Sirene, doch plötzlich erfaßte ihn ein unerklärlicher Abscheu. Er stürzte sich auf sie und versuchte, sie inmitten einer Blumenrabatte zu erwürgen. Die junge Frau, die sich heftig zur Wehr setzte, war niemand anders als Weiße Wolke, deren Kleid sich vor dem Hintergrund des grünen Grases in einen roten qipao verwandelt hatte.
Offenbar ging ihm der Fall mit dem roten qipao noch immer durch den Kopf; was ihn jedoch erschreckte, war das Auftauchen von Weißer Wolke in seinem Traum, ganz zu schweigen von seinem eigenen Verhalten. Vermutlich hing es mit ihrem Besuch am Markt beim Stadtgott-Tempel zusammen. Vielleicht lag es auch an dem Bankett, dessen ungewohnte Stärkung seines yin und yang ihn auch sexuell erregt hatte. Eigentlich ein positives Zeichen. Er hatte sich so weit erholt, daß er
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