Blut und rote Seide
Bildes – wegen angeblicher ›Propagierung eines bourgeoisen Lebensstils‹. Das war ein Verbrechen damals. Nach all den Jahren sollte man ihn damit in Frieden lassen.«
»Es ist eine großartige Fotografie«, fuhr Chen unbeirrt fort und zog eine andere Visitenkarte hervor, die des Schriftstellerverbandes. »Ich schreibe nämlich Gedichte. Für mich ist es ein Meisterwerk. Poesie in Bildern.«
»Poesie in Bildern«, das war das höchste Lob, das die traditionelle chinesische Kunstkritik zu vergeben hatte, und in diesem Moment glaubte Chen aufrichtig an dieses Klischee.
»Mag schon sein. Aber was ändert das? Schauen Sie mich an. Man hat mich in die Ecke gestellt wie einen schmutzigen, alten Wischmop.« Sie deutete auf die Propangasflasche. »Nicht mal in die Gemeinschaftsküche lassen sie mich. Alle sind gegen mich. Erzählen Sie denen da draußen von dem sogenannten Meisterwerk. Es wird sie nicht im mindesten beeindrucken.«
Sie schlurfte zu dem Kocher, um das Futter mit einem Eßstäbchen umzurühren. Dann drehte sie sich unvermittelt zu dem Topfwärmer um und lockte, als befände sich eine weitere Person im Zimmer.
»He, Schwarze, Essen ist fertig.«
Der Deckel des Topfwärmers hob sich, und eine Katze sprang heraus. Das Tier rieb seinen Kopf am Schienbein der alten Frau.
Chen erhob sich und schickte sich zögernd an zu gehen. Sie hielt ihn nicht auf.
Auf dem Weg nach draußen warf er einen weiteren Blick in die Gemeinschaftsküche. Die beiden wackeligen Tische, die dort eingezwängt standen, waren übersät mit Gemüsebündeln, Essensresten, fermentiertem Tofu, schmutzigen Eßstäbchen und Löffeln.
Draußen wies ihm ein Holzschild den Weg zum Büro des Nachbarschaftskomitees auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse. Der Besuch dort war Routine für einen Ermittlungsbeamten.
Als er dem leitenden Kader, einem hageren, grauhaarigen Mann namens Fei, seine Karte gab, schien dieser wenig beeindruckt. Chen kam ohne Umschweife auf Tante Kong zu sprechen; er wies darauf hin, daß ihr Mann ein mit Preisen ausgezeichneter Künstler gewesen sei und das Komitee sich um eine Verbesserung ihrer Lebensumstände bemühen müsse.
»Ist Tante Kong etwa eine Verwandte von Ihnen?« fragte Fei kurz angebunden und fuhr sich mit den vom Frost angegriffenen Fingern durchs Haar.
»Nein, ich habe sie erst heute kennengelernt. Aber sie muß Zugang zur Gemeinschaftsküche bekommen.«
»Mal ehrlich, Genosse Oberinspektor Chen, die Streitereien um die Gemeinschaftseinrichtungen halten unsereinen ganz schön in Atem. Soviel ich weiß, hat ihr Vormieter auch keinen Platz in der Küche beansprucht, ein Parteikader, der in seiner Fabrik rundum versorgt wurde. Außerdem befeuern die anderen Mieter ihre Herde mit Briketts. Es könnte gefährlich werden, wenn sie ihre Gasflasche dort aufstellt.«
Chen hörte sich das an und bat nach einer Pause: »Darf ich kurz Ihr Telefon benutzen?«
Er rief beim Polizeichef des Distrikts an, dem auch die Nachbarschaftskomitees unterstanden. Nachdem er sich zu dessen Büro hatte durchstellen lassen, reichte er den Hörer an Fei weiter, der verwundert lauschte.
»Jetzt erinnere ich mich an Sie, Oberinspektor Chen«, sagte er plötzlich in verändertem Ton. »Bitte haben Sie Nachsicht mit einem Mann meines Alters. Schon das Sprichwort sagt: Ein alter Mann sieht den Wald vor Bäumen nicht . Natürlich habe ich schon von Ihnen gehört, sogar im Fernsehen habe ich Sie gesehen.«
»Dann werden Sie auch wissen, daß ich meine Schulden immer begleiche.«
»Ist mir völlig klar, Oberinspektor Chen. Aber man hat’s nicht leicht mit diesen Streitereien unter Nachbarn. Dennoch sollten wir unser Bestes tun, da haben Sie völlig recht. Gehen wir doch hinüber.«
Es kümmerte Chen wenig, was der Polizeichef zu Fei gesagt hatte. Gemeinsam überquerten sie die Gasse zu Tante Kongs Gebäude.
Alle Bewohner kamen aus ihren Zimmern, als Fei und Chen in dem engen Korridor auftauchten. Fei verkündete, das Nachbarschaftskomitee habe zusammen mit der Distriktpolizei folgenden Beschluß gefaßt: Für Tante Kong müsse ein Platz in der Gemeinschaftsküche freigeräumt werden, damit sie dort ihren Propangaskocher aufstellen könne. Aus Sicherheitsgründen würde das Komitee für eine Trennwand zwischen der Gasflasche und den Kohleherden sorgen. Niemand widersprach.
Chen wollte gerade gehen, als Tante Kong vortrat. »Genosse Oberinspektor Chen.«
»Ja, Tante Kong?«
»Kann ich Sie kurz sprechen?«
»Natürlich.«
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