Blut und rote Seide
die Unterlagen genauer an. Kong hatte im Wangkai gearbeitet, einem der bekanntesten staatlichen Fotostudios von Shanghai. Außerdem konnte er mehrere Auszeichnungen vorweisen, die ihm die Mitgliedschaft in der Künstlervereinigung gesichert hatten. Kurz nach Ende der Kulturrevolution war er gestorben. Seine Frau lebte inzwischen allein im Bezirk Yangpu. Probleme in Zusammenhang mit einem umstrittenen Foto wurden in den Unterlagen nicht erwähnt. Doch wie viele sogenannte bourgeoise Künstler war er der Kritik durch die Massen ausgesetzt gewesen.
Auch von einer preisgekrönten Arbeit war nirgends die Rede.
Er erhob sich und widerstand der Versuchung einer weiteren Tasse Kaffee.
22
KURZ VOR HALB EINS langte Chen bei dem Haus in der Jungong Lu an.
Aus den verblichenen Holzbriefkästen am Fuß einer bröckelnden Betontreppe schloß er, daß es sich um eines jener schäbigen und überbelegten Gebäude handelte, wie sie in den sechziger Jahren als »Neue Heimat der Werktätigen« errichtet worden waren. Auf einem der Briefkästen stand ihr Name.
Er stieg die Treppe hinauf und öffnete die Tür zu einer Dreizimmerwohnung, die sich offenbar drei Familien teilten. Zunächst betrat er eine mit mehreren Herden vollgestellte Gemeinschaftsküche. Das bestätigte, was er bereits vermutet hatte, sie bewohnte ein einzelnes Zimmer.
Er klopfte an die Tür mit der Nummer 203. Eine weißhaarige Frau öffnete und starrte ihn durch ihre Nickelbrille an.
»Sind Sie Frau Kong?«
»Jeder hier nennt mich Tante Kong«, erwiderte die alte Frau und ließ ihn eintreten.
Sie trug einen wattierten Mantel, wattierte Hosen und ein Paar scharlachrote Pantoffeln mit Blumenstickerei. Das Zimmer war winzig wie ein Tofuwürfel, vollgestopft mit schäbigem Mobiliar und allem möglichen Krempel. Neben dem einzigen Stuhl stand ein altmodischer Topfwärmer aus Stroh, der ihr offenbar als Fußbänkchen diente. Es war eiskalt im Zimmer, obwohl die Fenster mit Papier abgedichtet waren.
»Sie können den Stuhl haben«, sagte sie.
»Danke«, erwiderte er und ließ sich vorsichtig auf der Stuhlkante nieder. »Sie müssen entschuldigen, daß ich Sie so überfalle, Tante Kong.«
Er erklärte den Grund seines Besuchs und zog dabei eine Visitenkarte und die Zeitschrift mit dem Foto hervor.
Sie betrachtete das Bild mit unbeweglichem Gesichtsausdruck. Zwei, drei Minuten lang sagte sie kein Wort.
Chen wartete und bemerkte dabei einen sonderbaren Geruch im Zimmer. Er kam aus einer Konservendose mit fragwürdigem Inhalt, die auf einem Gasbrenner in der Ecke vor sich hin kochte. Vermutlich Katzenfutter. In Shanghai hielt man vor allem deshalb Katzen, um sich die Ratten vom Hals zu halten, gemäß dem Spruch von Deng Xiaoping: »Egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, solange sie Ratten fängt, ist sie eine gute Katze.« Während unter den Neureichen der Stadt jetzt Haustiere in Mode kamen, diente eine Katze in solchen Wohnverhältnissen wohl vorwiegend der Schädlingsbekämpfung. Und da Tante Kong sich vermutlich kein anderes Katzenfutter leisten konnte, kochte sie Reisreste mit ein paar Fischgräten. Doch so ein Kocher im Zimmer einer alleinstehenden alten Dame konnte gefährlich werden. Die Gasflasche stand neben einem winzigen Holztischchen, darauf eine Plastikschüssel mit schmuddeligen Tassen und Schalen.
»Ja, dieses Foto hat mein Mann gemacht. In den Sechzigern«, sagte sie mit bebender Stimme. »Aber er ist schon so lange tot. Wie soll ich mich da noch an Einzelheiten erinnern?«
»Die Aufnahme wurde mit einem nationalen Preis ausgezeichnet. Er muß doch mit Ihnen darüber gesprochen haben. Versuchen Sie sich zu erinnern, Tante Kong. Alles, was Ihnen dazu einfällt, könnte für unsere Ermittlungen von Bedeutung sein.«
»Einen nationalen Preis! Der brachte ihm nichts als Unglück. Dieses Bild war ein Fluch.«
»Ein Fluch«, wiederholte Chen. Ein ungewöhnliches Wort, und nicht das erste Mal, daß es im Zusammenhang mit diesem Fall auftauchte. Sie mußte sich an etwas erinnern, aber es war keine gute Erinnerung. »Worin bestand dieser Fluch? Bitte erzählen Sie.«
»Wer will heute noch wissen, was während der Kulturrevolution geschehen ist?«
Oftmals waren die Erinnerungen an jene Jahre zu schmerzlich; er konnte das verstehen. Noch dazu, wenn man sie einem Fremden anvertrauen sollte. Chen wappnete sich mit Geduld.
»Meinen Sie damit, daß die Personen auf dem Bild verflucht waren, Tante Kong?«
»Er ist kritisiert worden wegen dieses
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