Blut und Silber
sie davonjagen, wenn sie zu ihm ginge. Das hatte ihr sein hasserfüllter letzter Blick verraten, bevor er unter den Hieben zusammengebrochen war.
Ein Bewaffneter trat an ihre Seite. Änne ließ die Arme sinken und sah auf.
Hatte der Vogt befohlen, sie doch noch ins Verlies zu werfen? Ihr Ohren und Nase abzuschneiden? Musste sie wieder in seine Kammer und dort mit sich geschehen lassen, was ihm an Widerwärtigkeiten nur einfiel, und dabei auf Befehl auch noch lächeln?
Alles war möglich angesichts der Unberechenbarkeit dieses Teufels.
Sie würde wohl nie wieder lächeln können, ohne sich daran zu erinnern, wie sie – nackt und vollkommen ausgeliefert – am Rande des Abgrunds balanciert war, um Marsilius und sich selbst das Leben zu retten.
Als der Graf endlich fertig war, hatte er sie als letzte Demütigung einfach aus dem Bett geworfen und durch die Nacht nach Hause geschickt. Die hastig zusammengerafften Kleider musste sie vor seiner Kammer anziehen, unter den Augen seiner grinsenden Leibwachen.
Aber der Soldat sollte jetzt wohl nichts weiter tun, als ihr die Meute vom Hals zu halten, bis sie sich verlaufen hatte. Offenbar wollte der Herr der Stadt, dass sie – zu seinem Vergnügen – mit ihrer Schande weiterlebte.
Die Hälfte der Gaffer war inzwischen in einem johlenden Zug dem Verbannten bis zum Stadttor gefolgt, die anderen gingen wortlos, betend oder mit einem mitleidigen Blick auf die Frau des Arztes nach Hause.
Als der Platz fast leer war, kniete Änne immer noch dort im Schmutz. Clementia war längst fort. Sie packte bestimmt im Haus ein paar Sachen zusammen, um ihrem Herrn heimlich nachzulaufen und ihm Kleider, Essen, Geld und seine kostbaren Instrumente zu bringen.
Nicht einmal das darf ich, dachte Änne bitter. Ich kann mich nicht um seine Wunden kümmern, obwohl er mich gepflegt hat, als ich krank war. Durfte sie überhaupt noch sein Haus betreten, nachdem er sie verstoßen hatte?
Der Bewaffnete neben ihr schien nach einiger Zeit offenbar nicht so recht zu wissen, was er tun sollte, drehte sich noch einmal suchend um und ging dann einfach.
Jemand trat zu Änne. In Erwartung neuen Unheils sah sie hoch und erblickte Pater Clemens.
»Komm mit mir, meine Tochter. Lass uns gemeinsam beten für das Seelenheil der beiden Toten und das Leben deines Mannes.«
Mit einem Anflug von Dankbarkeit stand sie auf. In die Kirche. Dass sie wenigstens an diesem Ort noch geduldet wurde! Dann zuckte sie zusammen, weil ihr mit schrecklicher Klarheit etwas wieder bewusst wurde.
»Werdet Ihr mir die Beichte abnehmen, Pater? Ich … habe gegen Gottes Gebot verstoßen … und ich bereue aus tiefstem Herzen …«
Noch ein Schritt. Und noch einer. So verzweifelt wie einst Sibylla durch den Schnee quälte sich nun Conrad Marsilius über das Feld westlich von Freiberg, nur in entgegengesetzter Richtung. Der fast zu Tode geschundene Mann nahm das letzte bisschen Kraft zusammen, um die Stadt hinter sich zu lassen, aus der er mit Hohn und Schimpf verjagt worden war. Die hartnäckigsten seiner Verfolger waren endlich umgekehrt.
Am liebsten würde er sich in den Staub sinken lassen und einfach liegen bleiben. Doch wie auch Sibylla damals wusste er, dass er nie wieder aufstehen würde, wenn er jetzt der Schwäche nachgab. Er würde hier auf dem Weg verrecken wie krankes Vieh, der Geruch des Blutes von seinen offenen Wunden Aasfresser und Gewürm anlocken.
Als er sicher war, dass sich kein Mensch mehr in seiner Nähe befand, schleppte er sich hinüber zum Bach, der nach der Schneeschmelze reichlich Wasser führte. Vorsichtig stieg er hinein und streckte sich der Länge nach im Wasser aus, so gut es ging. Er ächzte erst vor Schmerz, dann vor Erleichterung, als das kalte Wasser die Blutkrusten aufweichte und die Wunden kühlte.
Die Versuchung war groß, einfach nachzugeben und sich treiben oder auf den flachen Grund sinken zu lassen. Aber er wusste, dass er die Haut nicht zu sehr aufweichen durfte.
Eine in einiger Entfernung aus Richtung Freiberg auftauchende Gestalt beschleunigte Meister Conrads Entscheidung, die schmeichelnde Kühle des strömenden Wassers zu verlassen. Vorsichtig stieg er aus dem Bach und verkroch sich im Gestrüpp nahe dem Ufer. Als die Blätter und Zweige über seine offenen Wunden strichen, trieb ihm der Schmerz Tränen in die Augen. Er legte sich flach auf den Boden und wagte nicht, den Kopf zu heben, um zu sehen, ob Gefahr drohte.
»Meister Conrad, kommt heraus!«, erscholl eine
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