Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Blut Von Deinem Blute

Titel: Blut Von Deinem Blute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
Vom Netzwerk:
deutete.
    Laura verneinte. »Ich bin früher hier zur Schule gegangen«, erklärte sie mit einem Anflug von Verlegenheit. »Und wollte mich nur ein bisschen umsehen.«
    »Ach so.« Er nickte und betrachtete dabei ungeniert ihren Busen. »Aber mit dem Fenster da müssen Sie wirklich aufpassen.« Er schob sie zur Seite und zog geräuschvoll dieNase hoch. »Ich predige seit Jahren, dass sie da ein Schloss dranmachen sollen. Aber auf mich hört ja keiner. Dabei ist da schon mal wer rausgefallen.«
    Laura horchte auf. »Tatsächlich?«, fragte sie atemlos. »Wer denn?«
    »Ach, 'n Kind eben.« Der Mann blickte an ihr vorbei in den Hof hinunter, wo sich die steinernen Stufen im Dunkel verloren. »Hat den Halt verloren.«
    »Und dieses Kind«, fragte Laura, indem sie es ihm gleichtat, »ist es schwer verletzt worden?«
    »Verletzt?« Er hustete trocken. »Tot war's. Ist mit dem Kopf auf die Treppe geschlagen. Sehen Sie, da wo's in den Keller runtergeht. Sonst wär's ja vielleicht sogar gutgegangen.« Er zuckte die Achseln. »Ist ja eigentlich so hoch nicht.«
    Er hat recht!, dachte Laura. »Wissen Sie, wie es passiert ist?«
    Der Mann nickte. »Wahrscheinlich wollte er'n Buch zurückbringen. Aber er kam nicht rein, und da muss er versucht haben, durch das Fenster hier nach drüben zu klettern. Sehen Sie?« Seine Hand wies nach rechts. »Da drüben das Büchereifenster, das wollte er wohl erreichen. Sind rund anderthalb Meter, also schon für einen Erwachsenen kaum zu schaffen. Aber da stecken Sie nicht drin, was in so 'nem Kinderhirn vorgeht.«
    Sie muss ihn überredet haben. Von allein wäre er nie auf eine so absurde Idee gekommen ...
    »Und dieses Kind ...« Laura schluckte. »Das Kind, das damals verunglückt ist, war ganz bestimmt ein Junge?«
    Ihr Gesprächspartner nickte wieder. »Marcel hieß er, werd' ich nie vergessen.«
    Sie war eigentlich sicher, dass sie diesen Namen noch nie gehört hatte. Aber was hieß das schon?!
    »Sechs oder sieben ist er gewesen«, fuhr der Mann an ihrer Seite fort. »Verrückt, nicht?«
    Laura konnte nicht verhindern, dass eine Welle von Kälte ihren Körper erzittern ließ. Und sie hoffte inständig, dass der Mann sie jetzt nicht ansah.
    Sie hat gesagt, es sei nur ein Spiel. Aber es war eine mutwillige Täuschung. Sie war gefährlich, schon als Kind.
    »Und es ist ganz sicher ein Unfall gewesen?«, stieß Laura hervor, während sie das beklemmende Gefühl hatte, jeden Augenblick die Fassung zu verlieren.
    »Klar doch.« Der Mann zog das Fenster zu und sah sie an. »Was denn sonst?«
    Mord, dachte Laura. Schließlich hat sie doch Freude am Töten ...

6
    Da Leon seinen Leihwagen bereits zurückgegeben hatte, nahm er ein Taxi, um zu dem Hof zu gelangen, den Julien Bresson zusammen mit seinem Schwiegervater bewirtschaftete. Er nannte dem Fahrer die Adresse und betrachtete vom Rücksitz aus dessen Nacken, der sich über den Kragen eines tadellos gebügelten Hemdes wölbte.
    Ihre Schwester malt nur, was sie sieht. Nicht, was sie fühlt. Sagen Sie ihr, so wird das nichts.
    Leon ließ den Kopf gegen das abgewetzte Polster sinken. Instinktiv wusste er, dass Mia Bradley recht hatte. Aber erkonnte auch nicht aufhören, in den Bildern, die seine Schwester ihm geschickt hatte, den Rettungsanker zu sehen, der Tonia vielleicht doch noch einmal in die Welt der Gesunden zurückholen würde. In die Realität. Die Phantasie ist nicht der schlechteste Ort, mahnte Mia Bradley, doch zumindest was das anging, war er anderer Meinung. Seine Schwester behauptete, sie lebe gern in einer Klinik, weil es dort so wenig Unvorhergesehenes gebe. Aber das Leben, dachte Leon resigniert, das Leben ist immer unvorhersehbar. In einer Klinik genauso wie in der Hektik einer Großstadt. Es gibt keine Sicherheit. Nirgendwo auf der Welt. Festgelegte Essenszeiten und genau definierte Tagesabläufe sind nichts als eine billige Illusion.
    Er blickte irritiert auf, als der Fahrer vor einem wuchtigen Gebäude stoppte, das sich in seiner funktionalen Bauweise grundlegend von Bernadette Labraques gemütlichem Cottage unterschied. Über den nahen Wiesen hing feuchtgrauer Nebel, und die Scheinwerfer des Taxis waren heller als das Licht, das vom Himmel kam.
    Das flache Land ist ein beängstigender Ort, dachte Leon. Ein Ort, an dem man sich nicht verstecken kann. Wo man ausgeliefert ist. Dem Himmel. Den eigenen Gedanken. Der Vergangenheit.
    Er stieg aus und sah dem Taxi nach, als es davonfuhr. Irgendwo in der Ferne weinte ein Baby.

Weitere Kostenlose Bücher