Blut Von Deinem Blute
werden. Sie wollte nicht, dass sich der Kamm abends in ihren vom Wind zerzausten Haaren verfing. Sie wollte keine Mützen oder Kapuzen auf ihrem Kopf und auch keine beschichteten Hosen zum Radfahren. Und wenn sie spazieren ging, wollte sie, verdammt noch mal, nicht darüber nachdenken, ob der Weg, den sie wählte, ein paar Stunden später überhaupt noch vorhanden war oder vom zweitgrößten Tidenhub der Welt überflutet sein würde!
Sie sah wieder Nellies grünes Brokatkleid an.
Seit sie für sich selbst sorgte, kaufte sie nur das, was man landläufig Businesskleidung nannte. Hochwertige, exzellent geschnittene Hosenanzüge und Kostüme, dazu die eine oder andere raffinierte Abendrobe und zierliche Schuhe mit Riemchen und stiftdünnen Absätzen.
Und während du noch Monate danach über irgend so ein verpisstes Laufband jagst, fragen sich die Kinder in Afrika, was in aller Welt sie mit einem Armani-Kostüm anstellen sollen, höhnte Mia mitten im unaufhaltsam stärker werdenden Kopfschmerz.
Unwillkürlich sah Laura zur Tür. Ihre Schwester war eine andere geworden in diesen fünfzehn Jahren, die sie einander nicht gesehen hatten. Und das nicht nur äußerlich. Alles, was sie sagte, klang wirr und verschroben, und wenn sie sprach, veränderte sich ihr Tonfall unablässig. Mal war er beinahe kindlich, dann wieder bitter oder zynisch – die Wechsel vollzogen sich in atemberaubenderGeschwindigkeit, und ebenso abrupt schienen auch Mias Gedanken hin und her zu springen. Und ihre Launen ... Laura starrte die Türklinke an. Wer bist du?, dachte sie. Was ist das für ein Mensch, der irgendwo dort unter mir ... Sie hielt lauschend inne, und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass die Stille des Herrenhauses einem Geräusch gewichen war.
Nein, keinem Geräusch ... Musik! Mia spielte Klavier!
Laura ließ den Blazer, den sie noch immer in den Händen hielt, auf die wollene Tagesdecke sinken. Sie verstand nichts von Musik und sie hatte dieses Stück seit zweiundzwanzig Jahren nicht gehört, trotzdem erkannte sie es sofort. Es war das Ges-Dur-Impromptu von Franz Schubert, das Lieblingsstück ihrer Mutter. Mia muss sich das Stück beigebracht haben, nachdem alle gestorben waren, dachte sie schaudernd, während ihre Augen in Zeitlupe zur Tür zurück wanderten. Sie hatte nicht hinter sich abgeschlossen, weil sie erst auspacken und sich noch ein wenig umsehen wollte. Doch jetzt fiel ihr auf, dass es gar keinen Schlüssel gab!
Alarmiert stürzte sie zur Tür und öffnete sie, um zu sehen, ob der Schlüssel nicht vielleicht von außen steckte, auch wenn sie ziemlich sicher war, dass ihr das bei ihrem Eintreten aufgefallen wäre. Und tatsächlich: Das Schlüsselloch war leer. Dabei hatte sie schon mit vierzehn jeden Abend die Tür zu ihrem Schlafzimmer verschlossen. In der schweren, weiß lackierten Tür hatte immer ein Schlüssel gesteckt!
Zögernd trat Laura auf den Gang hinaus und blickte zum Zimmer ihrer Schwester hinüber. Kein Schlüssel,auch dort nicht. Aus dem Erdgeschoss drang noch immer der Schubert herauf. Mia interpretierte das Stück vollkommen anders, als ihre Mutter es immer getan hatte. Nicht sentimental, sondern wild und ungezähmt. Da sitzt sie allein in einem leeren Haus, in dem das Blut ihres Vaters an den Wänden klebt, und spielt das Ges-Dur-Impromptu von Schubert, dachte Laura mit einem leisen Schauder. Sie muss vollkommen verrückt sein!
Unter den fernen Klängen schlich sie sich über den Treppenabsatz und drückte auf die Klinke zu Mias Zimmer, doch die Tür war abgeschlossen. Laura kehrte in ihr eigenes Zimmer zurück und sah sich suchend um. Vielleicht hatte ihre Schwester den Schlüssel weggelegt, damit er nicht verloren ging. Ihre Augen blieben an der Kommode hängen, die ihr früher als Aufbewahrungsort für Strümpfe und Unterwäsche gedient hatte. Hastig öffnete sie eine Schublade nach der anderen, doch sie wurde nicht fündig. Die Schubfächer waren leer und mit geschmacklos-buntem Wachspapier ausgelegt, das an den Rändern hässliche, ausgeblichene Wellen schlug. Laura betrachtete es nachdenklich. Wie viel von dem Mädchen, das sie gewesen war und an das sie auf keinen Fall erinnert werden wollte, lauerte sonst noch in diesem Zimmer? Und wie sollte sie die Stunden bis zum nächsten Morgen überstehen, bis zum nächsten Flug, zur nächsten Möglichkeit, diese Insel zu verlassen, wenn es ihr nicht gelang, dieses Zimmer zu verschließen?
Sie ging zum Kleiderschrank hinüber und öffnete die Türen.
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