Blut Von Deinem Blute
kryptisch.
»Im Gesindezimmer?«
Mia nickte und zog einen riesigen Schlüsselbund aus der Tasche ihrer Jeans. »Warte, warte, warte ...« Sie klimperte mit den Schlüsseln, dann löste sie einen davon aus dem silbernen Ring, der sie zusammenhielt. »Das hier müsste er sein.«
Laura nahm ihr den Schlüssel aus der Hand. »Danke.«
»Ich muss los.« Ihre Schwester ging zur Tür, wo sie sich noch einmal kurz umdrehte. »Und vergiss nicht, hinterher wieder abzuschließen ...«
»Damit sie nicht herauskann«, ergänzte Laura eilig. »Ich weiß Bescheid.«
Mia grinste und verschwand auf der Treppe. »Hast du übrigens gewusst, dass Meerschweinchen Türen aufmachen können?«, hörte Laura gleich darauf noch einmal ihre Stimme, nun schon weiter unten im Haus. »Sie springenauf die Klinken und vermehren sich quer durch alle Zimmer, wenn man nicht aufpasst.« Die Stimme verlor sich in einem entfernteren Teil des Erdgeschosses. »Kannst du dir vorstellen, was das für eine Sauerei ist, so eine Geburt? Einfach ekelha...« Das letzte Wort war nur mehr zu erahnen.
Mia war verschwunden.
Laura verharrte regungslos neben dem Bett.
Ihr war übel und schwindlig, aber sie brachte es einfach nicht fertig, sich auf die staubige Matratze zu setzen. Stattdessen starrte sie auf das zerborstene Schloss. Hatte Mia eben tatsächlich von Meerschweinchen gesprochen? Oder hatte sie sie längst durchschaut? Wusste sie um ihr Geheimnis?
Eine andere Bemerkung ihrer Schwester fiel ihr ein. Das ganze Haus sieht jetzt aus, als wäre es schwanger. Laura schluckte mühsam. Ihre Kehle fühlte sich an wie ausgedörrt. Schwangere Häuser, gebärende Meerschweinchen ... Konnte Mia es wissen? Oder war es ihre eigene Phantasie, die ihr einen Streich spielte? Ihre Augen wanderten über den Boden, der übersät war mit Heu und Staubflocken. Vielleicht bin ich diejenige, die verrückt ist, dachte sie, während Kreise aus bunten Lichtern über die staubigen Dielen huschten. Vielleicht höre ich nur, was ich hören will. Wie nannte man so was? Selektive Wahrnehmung?
Sie atmete tief durch und riss den Blick vom Boden los.
Nein, dachte sie. Mia sagt das alles mit voller Absicht. Sie hat einen Wagen. Sie ist damit nach Frankfurt gefahren und hat mir aufgelauert. Sie ist mir zu meinem Frauenarzt gefolgt und ein paar Tage später auch zu dieser Beratungsstelle. Sie weiß Bescheid. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund weiß sie genauestens Bescheid über mich und meinLeben. Ich muss auf der Hut sein! Und niemals, unter gar keinen Umständen, darf ich den Fehler begehen, sie zu unterschätzen ...
10
Zimmer 309 erwies sich als hell und geräumig und ging, genau wie alle anderen Gästezimmer auf dieser Etage, nach Süden.
Leon warf seinen Koffer aufs Bett und trat auf den Balkon hinaus, von dem aus man einen traumhaften Blick über die Bucht von St. Brelade hatte. Auf dem Flug hatte er sich in groben Zügen über die Kanalinseln, insbesondere deren politische und gesellschaftliche Strukturen, informiert. Er wusste, dass die Verbrechensrate auf Jersey genau wie auf den anderen Kanalinseln vergleichsweise niedrig war und dass rund zweihundertfünfzig Polizisten in den zwölf Gemeinden der Insel Dienst taten. Es gab ein Drogendezernat und eines, das sich mit Wirtschaftsverbrechen beschäftigte, was nahe lag, denn die Steueroase Jersey zog Jahr für Jahr Unsummen an ausländischem Kapital an. Außerdem unterhielt die States of Jersey Police noch die sogenannte Public Protection Unit, in deren Zuständigkeitsbereich alle Arten von Gewaltverbrechen fielen. Wie Leon verschiedenen Zeitungsberichten entnommen hatte, war der Doppelmord an Nicholas Bradley und seiner Frau allerdings nicht nur von den örtlichen Behörden untersucht worden, sondern es war zusätzlich ein Expertenteam aus Portsmouth hinzugezogen worden, wobei zwei derArtikel auch einen Namen genannt hatten. Leon hatte sich diesen Namen ganz vorn in das kleine Lederbüchlein notiert, in das er für gewöhnlich Notizen für seine Recherchen machte: ein Detective Superintendent Lionel Archer. Er hatte im Internet recherchiert und tatsächlich eine Adresse gefunden. Doch er hatte beschlossen, sich zunächst an die örtliche Polizei zu wenden.
Der Ansatz, den er sich zurechtgelegt hatte, war allerdings mehr als dürftig: ein deutscher Geschichtsprofessor, der das Schicksal ehemaliger Besatzungssoldaten und ihrer Familien auf den Kanalinseln recherchierte und dabei quasi im Vorbeigehen auf einen ungelösten
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