Blut Von Deinem Blute
einfach gestrickter Charakter, auch wenn schon damals alle Welt behauptet hat, sie sei entsetzlich kompliziert.«
Leon beobachtete ihr Mienenspiel aufmerksam. Er bezweifelte keine Sekunde, dass sie von dem, was sie sagte, absolut überzeugt war. Und dass sie echte Sympathie für Mia Bradley hegte.
Entweder sie ist unschuldig, raunte Jason Hearings sonore Stimme ihm zu, oder die Einschätzung, die die meisten von uns damals vertreten haben, war doch richtig, und Mia Bradley ist der abgebrühteste Mensch auf Gottes Erdboden . ..
»Es mag der falsche Weg sein, den sie geht«, sagte im selben Moment Jutta Albrecht, »aber Mia geht ihn grundsätzlich geradeaus. Ohne Wenn und Aber. Sie hat mich immer ein bisschen an eine Hündin erinnert, die ich hatte.« Ihre Augen suchten Leons. »Wissen Sie, meine Mandy war ausgesprochen wählerisch darin, wen sie an sich heran ließ und wen nicht. Wenn sie jemanden nicht leiden konnte, konnte sie ihn nicht leiden. Punkt. Und selbst wenn derjenige ihr ein Filetsteak unter die Nase gehalten hätte ... Glauben Sie mir, sie hätte es nicht genommen. Keine Chance.«
»Und Mias Schwester war da ...«, Leon erwog die folgenden Worte genau, »... weniger konsequent?«
»Oh nein«, widersprach Jutta Albrecht umgehend. »Das würde ich so nicht sagen. Sie zog nur eine andere Art von Konsequenzen, verstehen Sie?«
»Was für welche?«, fragte Leon, den dieses Gespräch über die Persönlichkeiten der beiden Schwestern zunehmend faszinierte.
»Bleiben wir bei dieser Geschichte mit den Farbkästen«, entgegnete seine Gesprächspartnerin. »Mia will malen. Ihr Vater verbietet ihr, sich Farben zu kaufen. Also klaut sie welche. Selbst auf die Gefahr hin, am Ende als etwas dazustehen, was sie gar nicht ist.«
»Sie meinen als Diebin?«
Sie nickte. »Wenn Laura sich hingegen etwas wünschte, eine neue Jacke zum Beispiel, ging sie zu ihrem Vaterund bat ihn um Geld. Und wenn er ihr keins gab, was er – nebenbei bemerkt – grundsätzlich nicht tat, dann trug sie eben weiter die alte Jacke und hasste ihn dafür. Das ist auch eine Form von Konsequenz, wenn Sie so wollen.«
Leider eine, die weitaus ungesünder klingt, dachte Leon.
Jutta Albrecht blickte an ihm vorbei aus dem Fenster. »Laura war nicht feige oder so«, sagte sie, als habe sie seine Gedanken erraten. »Sie ist nur jemand, der die Dinge mit sich allein ausmacht.«
»Wie auch immer«, brummte ihr Mann, dem die Sache inzwischen entschieden zu weit ging. »Die Mädchen hatten mit dieser schrecklichen Bluttat ganz sicher nichts zu tun. Eher war's dieser Stiefbruder. Wie hieß der noch gleich?«
»Julien«, antwortete seine Frau wie aus der Pistole geschossen.
»Richtig, Julien.« Albrecht zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. »Der Kerl spielte ständig an diesen Automaten rum und hatte einen Riesenhaufen Schulden. Wundert mich wirklich, dass sie den damals nicht verdächtigt haben. Wahrscheinlich, weil er nicht geerbt hat. Fehlendes Motiv oder so.« Er schnaubte verächtlich. »Als ob's im Leben nur ums Geld ginge.«
Interessante Bemerkung, dachte Leon.
»Vielleicht sind dem Jungen in dieser Nacht irgendwie die Sicherungen durchgebrannt«, murmelte sein Tischnachbar, indem er aufstand und nach seinem Teller griff. »War eine ganz eigenartige Atmosphäre damals. So'n Wetter wie heute.« Er sah nach draußen, als sei er plötzlich nicht mehr sicher. »Schwül und ... ja, irgendwie aufgeheizt.«
Seine Frau blickte ihm nach, als er Richtung Buffet verschwand.
»Ich hätte Sie gern noch etwas gefragt«, sagte Leon.
Das schien sie zu überraschen. »Ja?«
»Würden Sie es für ausgeschlossen halten, dass Mia Bradley ihren Vater getötet hat?«
Er hatte es absichtlich so kategorisch ausgedrückt. Und nun war er gespannt, was sie antworten würde. Ob sie antworten würde ...
Sie überlegte lange. »Nein«, sagte sie schließlich, »für ausgeschlossen würde ich es nicht halten. Vorausgesetzt, sie hatte einen guten Grund.«
»Könnte die Aussicht auf ein beträchtliches Vermögen Ihrer Meinung nach ein solcher Grund gewesen sein?«
»Kaum. Mia hat schon als Kind nicht viel gebraucht. Und nach allem, was ich höre, hat sich daran bis heute nichts geändert.«
»Außer der Möglichkeit, sich künstlerisch zu betätigen«, wandte Leon ein.
»Ja«, entgegnete Jutta Albrecht. »Das ist tatsächlich die einzige Ausnahme, die mir einfällt.«
»Und wenn ihr Vater ihr diese Möglichkeit verweigert hätte?«
Anstelle einer
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