Blut von meinem Blut: Thriller (German Edition)
Stunden totzuschlagen und nichts zu tun. Sie ertrug die Vorstellung nicht, den ganzen Tag allein in dem Hotelzimmer eingesperrt zu sein, mit keiner anderen Gesellschaft als dem Fernseher und seiner erbärmlichen Auswahl an Kabelkanälen. Selbst durch das trübe Fenster sah Brooklyn hart und hell aus in der Wintersonne. Das Sonnenlicht wirkte so warm, man wollte trotz der eingemummten Passanten kaum glauben, dass es draußen überhaupt kalt war.
Die Polizisten hatten das gesamte Material beschlagnahmt, das Detective Hughes am Abend zuvor gebracht hatte, aber sie hatten nichts mitgenommen, was Jazz oder Connie gehörte. Nur Sachen, die NYPD oder andere Kennzeichnungen trugen.
Und das hieß, sie hatten Connie ihren Laptop gelassen.
Die Polizei wusste nicht, dass Connie am Abend zuvor Bilder von einem Großteil des Beweismaterials gemacht und auf ihren Laptop übertragen hatte, zusammen mit Notizen von dem, was Jazz und Hughes gesprochen hatten. Sie hatte nichts dagegen gehabt, Sekretärin zu spielen, solange etwas für sie dabei heraussprang. Jazz und Hughes hatten wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, was sie tat. Die beiden waren in einer Art grimmigem Fantasiereich des Verbrechens unterwegs gewesen, wo Mörder im Halbdunkel lauerten und die Gossen von nicht deutbaren Hinweisen verstopft waren.
Sie überflog die Bilder und Notizen, dann überprüfte sie einige Dinge anhand der Kartenfunktion ihres Handys. Tatsächlich lagen viele der Tatorte ganz in der Nähe und waren sogar zu Fuß erreichbar.
Connie sagte sich, sie wollte nur raus aus dem Hotelzimmer. Ein wenig frische Luft schnappen. Ein bisschen durch die Straßen schlendern und sehen, was Brooklyn so zu bieten hatte. Sie war schon in New York gewesen, aber immer mit ihrer Familie und immer in Manhattan, nie in Brooklyn.
Und wenn ihre Streifzüge sie zu einigen der nächstgelegenen Tatorte führten, nun … das war dann nur ein glücklicher Zufall, nicht wahr?
Ein Mann mit einem Kinderwagen wäre auf dem Gehsteig beinahe mit Connie zusammengestoßen; sie konnte ihm gerade noch ausweichen. Er lächelte fröhlich, trug eine grauenhafte Gesichtsbehaarung zur Schau und dieselbe Retro-Brille mit dem massiven Gestell, die jeder zweite hier aufhatte. Er wirkte so offenkundig fröhlich, dass sie ihm nicht einmal nachrufen wollte, er solle aufpassen, wohin er lief. Stattdessen nahm sie sich die Zeit, sich einen Moment lang umzuschauen.
Connie gefiel die Stadt, zumindest das, was sie auf ihrer improvisierten Tour zu alten Tatorten bisher von ihr gesehen hatte. Sie hatte einige Zeit in Charlotte verbracht, aber selbst eine große Stadt wie Charlotte war nichts im Vergleich zur Stadt aller Städte: New York City. Es gefiel ihr, schwarze Gesichter zu sehen, wenn sie durch die Straßen schlenderte, es gefiel ihr, sich nicht so allein zu fühlen wie manchmal in Lobo’s Nod, wo sie sich oft verdächtig vorkam, und das nicht nur, weil der Vater ihres Freunds so verrufen war. Hier in New York war sie eine Perle mehr in einem Mosaik aus Schwarz, Weiß, Gelb, Braun … Es war erfrischend.
Sie hatte sich immer hier gesehen. Hier oder in L. A. Wenn sie Schauspielerin werden wollte, würde es eine der beiden Städte sein müssen. Nach Los Angeles ging man für das große Geld und die Art von Ruhm, für die man Leibwächter brauchte und die Paparazzi nicht mehr loswurde: Hollywood. Der Film. Endlos und ewig.
New York hingegen war die Heimat der Bühne. Broadway. Abend für Abend vor einem Livepublikum auftreten. Diese Unmittelbarkeit, dieses intuitive Feedback, erbarmungslos und verlässlich wie eine Gezeitenwelle. Sie hatte es zuerst bei einer Talentshow in der ersten Klasse gekostet und hungerte seitdem danach. Während Jazz in Geheimverstecken Zuflucht suchte und nach Anonymität strebte, sehnte sich Connie nach der Bühne, der Leinwand, danach, dass alle Welt ihr Gesicht und ihren Namen kannte.
Würde sie das zusammenhalten? Würde es sie auseinandertreiben? Gegensätze ziehen sich an, hieß es, und Connie konnte sich keine zwei Menschen denken, die gegensätzlicher waren als sie und Jazz.
Sie blieb vor einer Haarboutique stehen, die in riesigen Lettern auf der Schaufensterscheibe PRODUKTE FÜR AFRIKANISCHES HAAR bewarb. Eine Frau in einer Dashiki-Bluse mit Zöpfen, die länger und eindrucksvoller waren als Connies, stand davor; sie fröstelte sichtlich, war aber eindeutig gewillt, es für ihre Zigarette zu erdulden.
Allein die Worte AFRIKANISCHES HAAR erzeugten ein
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