Blut von meinem Blut: Thriller (German Edition)
Ohne die Leiche und die Ausrüstung der Spurensicherung hatte die Gasse einen anderen Charakter. Sie benutzte Markierungen und Graffiti an den Wänden, um sich zurechtzufinden, und so stand sie am Ende genau dort, wo die Leiche an die Wand gelehnt gewesen war.
Genau so hat der Killer es gesehen, dachte sie. Bevor er das Foto geschossen hat und weggelaufen ist.
Das würde Jazz jetzt sagen. Und dann würde er die Stirn in Falten legen und ins Leere starren, bis …
Bis was? Bis sein Gehirn explodiert?
Der Killer hatte also hier gestanden. Genau hier. Vor ein paar Jahren – ehe sie nach Lobo’s Nod gezogen waren – hatte Connies Familie eine Ferienreise nach London gemacht, wo sie an einer geführten Tour durch Whitechapel teilnahmen, den Londoner Stadtteil, in dem der legendäre Jack the Ripper in viktorianischer Zeit sein Unwesen getrieben hatte. Der Führer hatte sich daran ergötzt, die Verbrechen in allen schauerlichen Einzelheiten zu schildern, und es sich angelegen sein lassen, die Gruppe wiederholt daran zu erinnern, dass sich diese Gegend Londons seit viktorianischer Zeit nicht sehr verändert hatte.
» Jack könnte genau in diesem Eingang gelauert haben « , hatte er etwa gesagt, oder: » Jack ist über exakt dieselben Pflastersteine geschritten, die Sie jetzt unter den Füßen haben. «
Hut & Hund lauerte genau in dieser Gasse, dachte sie. Hut & Hund stand auf demselben schmutzigen Asphalt, auf dem ich in diesem Augenblick stehe.
Was hatte er gesehen? Connie zappte durch die Bilder, bis sie eines fand, das von ihrem jetzigen Standpunkt aufgenommen worden war. Sie hielt das Handy am ausgestreckten Arm vor sich. Die Leiche. Eingerahmt von einer Betonwand, die ein auseinandergezogener Regenbogen aus banalen, albernen, künstlerischen und schlicht unverständlichen Graffiti zierte.
Halt nach dem Ausschau, was nicht dazugehört.
… genau an dieser Stelle …
Nach dem, was zu perfekt dazugehört …
Sie ging her und machte ihr eigenes Foto, so wie es Hut & Hund getan hatte. Die dunkle Gasse leuchtete für einen Moment auf, und etwas sprang ihr ins Auge.
Hat gerade etwas anderes aufgeleuchtet? Oder habe ich nur im richtigen Moment geblinzelt oder …?
Als sie auf ihrem Foto nachsah, fiel ihr zuerst nichts auf, aber dann verglich sie es mit dem originalen Tatortfoto. Dort, in dem Wust von Graffiti auf der Wand hinter der Stelle, wo das Opfer gelehnt hatte, war etwas Neues. Es war auf dem Ursprungsfoto nicht gewesen.
Das sind nur neue Graffiti, weiter nichts.
Doch soweit sie feststellen konnte, war es die einzige Veränderung. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit?
Sie schlich näher zur Wand. Jetzt, da sie wusste, wonach sie suchen musste, war es nicht schwer zu finden.
Connie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie ein tag an eine Wand gemalt, aber sie wusste aus Filmen und dem Fernsehen, dass die Typen, die es taten, Sprühfarbe benutzten. Manchmal machten sie abgefahrene Sachen mit Neonmarkern, aber meist war es eine Dose mit irgendwelchem Mattlackzeug. Sie hatte keine Meinung zu Graffiti, aber sie stellte sich vor, dass es schwer war, solche sicheren, stimmigen Linien mit Sprühfarbe zu ziehen. Es erforderte Können.
Das neue Graffito dagegen war zittrig. Dünn. Klein. Und selbst ihr ungeübtes Auge erkannte den Hauptunterschied zu den Tags ringsum: Es war keine Sprühfarbe. Es war eine Art schlichte weiße Halbglanzfarbe, wie das Zeug, mit dem ihr Dad die Küche strich. Es war mit einem Pinsel aufgetragen worden, nicht mit einer Spraydose. Es verdeckte die ursprünglichen Graffiti, war also hinzugefügt worden, nachdem die Polizei in die Gasse eingefallen war.
Wichtiger noch war, dass der Style fehlte. Die meisten anderen Graffiti bestanden aus Schleifen, Wirbel, Pfeilen und kühnen Serifen. Das hier war einfach an die Wand geklatscht worden.
Fünf Buchstaben in langweiliger, leicht wackliger Blockschrift.
18
Wie vorauszusehen, ging für Jazz alles zum Teufel. Geradewegs und mit Vollgas.
Er war nicht zum ersten Mal von der Polizei abgeführt worden, aber noch nie in solcher Kälte. Die Januarluft ließ ihm fast den Atem stocken, und er fing augenblicklich zu zittern an, nachdem sie ihn aus dem Hotel geschleift hatten. Long stieß ihn auf den Rücksitz eines Zivilfahrzeugs, dann fuhr er los.
Minuten später hielten sie vor einem schäbigen Ziegelgebäude mit einem NYPD -Wappen an der Außenwand und einem Schild, auf dem 76. REVIER stand. Jazz überlegte kurz, ob er festgenommen war, aber
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