Blutbeichte
Normalität herstellen wollen, die es jedoch nie mehr geben würde.
Schließlich hatte Anna ihn überredet, mit Shaun nach New York zurückzukehren. Als sie ihnen später gefolgt war, wusste sie, dass es ihr schwerfallen würde, sich an das neue Haus und das neue Viertel zu gewöhnen. Sie hatte es bis heute nicht geschafft. Jeden Morgen wachte sie deprimiert und mutlos auf und wollte mit der Außenwelt gar nicht erstin Kontakt kommen. Und das bedeutete, wieder einmal die Enge und Monotonie der eigenen vier Wände ertragen zu müssen.
Zum Glück hatte Annas Chefin, Chloe da Silva, es ihr ermöglicht, zu Hause zu arbeiten – allerdings nur vorübergehend. Doch Anna war eine zu gute Innenarchitektin, um bei großen Aufträgen auf Dauer auf ihre Mitarbeit zu verzichten. Anfangs hatte Anna sich keine Gedanken gemacht. Es gefiel ihr, zu Hause Fotos zu bearbeiten und Produkte aus Katalogen, Bilddateien oder Paketen auszuwählen, die ihr fast täglich nach Hause geschickt wurden. Es war eine unkonventionelle Arbeitsweise, aber es funktionierte.
Doch als die Monate ins Land zogen, spürte sie eine wachsende Unsicherheit und die Angst, von heute auf morgen gefeuert zu werden und den Job zu verlieren, der sie davor bewahrte, den Verstand zu verlieren.
Anna erhob sich mühsam von der Couch und wollte in ihr provisorisches Arbeitszimmer gehen, als das Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer ab und hörte am Klang, dass Chloe in ihrem Büro den Lautsprecher eingeschaltet hatte.
»Hallo, Anna«, sagte Chloe.
Anna hielt den Atem an.
»Tut mir leid, wenn ich dich überfalle, aber ich stehe mächtig unter Druck und brauche deine Hilfe. Morgen früh stehen wichtige Aufnahmen im W Hotel am Union Square an, und Leah hat mich im Stich gelassen. Viele unserer größten Werbeträger sind an der Sache beteiligt. Der Fotograf ist Marc Lunel. Du kannst also mit einem echten Profi arbeiten. Das geht doch klar? Bitte, bitte!«
Anna dachte darüber nach, während sie das Paar im Fernsehen beobachtete, das den Zuschauern stolz das Innere ihres Landhauses zeigte. »Nur wenn ich namentlich erwähnt werde«, sagte sie schließlich.
»Du bist also dabei?«, fragte Chloe.
Annas Herz schlug schneller, doch nicht etwa, weil sie aufgeregt war. »Ja.«
»Puh, wenn ich gewusst hätte, dass es so einfach ist, hätte ich Marc schon vor Monaten angerufen«, sagte Chloe erleichtert.
Anna schwieg.
Chloe überbrückte die peinliche Stille. »Entschuldige bitte, dass ich so unsensibel bin, Anna. Natürlich brauchtest du diese Zeit, um wieder zu dir zu finden …«
»Kein Problem«, sagte Anna. »Die Einzelheiten kannst du mir per Mail mitteilen.«
»Klar. Schon geschehen. Danke, mein Schatz. Tausend Dank.«
Joe saß an seinem Schreibtisch und sah seine E-Mails durch, als Danny zu ihm kam.
»Ich hab hier die Akte«, sagte er. »Die, von der ich dir erzählt habe … von diesem Schauspieler, William Aneto.«
Joe machte Platz auf seinem Schreibtisch und legte einen Stapel Papiere auf den Boden. Danny schlug die Akte William Anetos auf. Aneto war einunddreißig, schlank, gut aussehend, mit kinnlangem schwarzem Haar. Joe schaute auf das Porträt und sah das Gesicht eines TV-Schauspielers. Einen Nebendarsteller, der nur ein paar Zeilen sprach und immer zwei, drei Schritte vom Hauptgeschehen entfernt war.
William Aneto hatte in einer Seifenoper in spanischer Sprache den Freund des Bruders vom Hauptdarsteller gespielt. Er war vor nunmehr fast einem Jahr ermordet worden. Eine Freundin hatte seine Leiche in seiner Wohnung in der Upper West Side gefunden. Die Ermittlungen führten rasch in eine Sackgasse. William Aneto zählte zu einer Kategorie von Opfern mit hohem Risikopotenzial – wechselnde Geschlechtspartner aus der Schwulenszene –, und es war bekannt, dass er nachts gerne mit einem Fremden verschwand.Danny und Martinez hatten Hunderte von Freunden, Bekannten und Liebhabern William Anetos befragt, ohne einen Schritt weiterzukommen. Am Ende mussten die Ermittler davon ausgehen, dass es sich bei dem Mord um einen aus dem Ruder gelaufenen One-Night-Stand handelte.
Joe zog die nächsten Fotos aus der Hülle und legte sie nebeneinander auf den Tisch. Danny stand neben ihm. Wie bei Ethan Lowry war Anetos Leichnam im Eingangsbereich seiner Wohnung gefunden worden. Hinter dem Toten schlängelten sich haarfeine rote Linien über den grau gefliesten Boden, als wäre ein trockener Pinsel durch rote Farbe gezogen worden.
»Ja. Jetzt erinnere ich mich
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