Blutbeichte
so sehr von dem, das er mit Katie in Irland geführt hatte, dass es ihm beinahe unwirklich erschien. Die Zeit mit Katie war von den Gefühlen beherrscht gewesen, die sie füreinander gehegt hatten. Sie hatten einander zum Lachen gebracht, hatten sich stundenlang auf seinem Bett aneinandergeschmiegt, hatten einfach nur geredet oder sich Filme angeschaut. Es war nicht – so wie jetzt – immer nur darum gegangen, zu welcher Clique man gehörte, was man besaß, mit wem man schlief, wer das neueste Handy oder die hipsten Klamotten besaß. Damals, in dem Dorf in Irland, hatten Katie und Shaun nur einander gehabt, und mehr hatten sie auch nicht gebraucht zum Glücklichsein. Manchmal überwältigte Shaun der schreckliche Gedanke, nie mehr so glücklich zu sein wie damals, mit solcher Wucht, dass es ihm buchstäblich die Luft nahm.
Er ging zum Schrank. Aus dem obersten Fach nahm er eine kleine Blechdose heraus. Eine dünne Wachsschicht bedeckte den Boden, und ein winziger schwarzer Docht ragte aus der Mitte heraus. Es war Katies Lieblingskerze gewesen – Fresh Linen. Shaun nahm ein Feuerzeug aus einer Schublade und zündete die Kerze an. Er ließ sie immer nur ein paar Minuten brennen, denn der Gedanke, sie würde jemals vollständig abbrennen, war ihm unerträglich.
In drei Wochen jährte sich der Tag von Katies Beerdigung, doch daran dachte Shaun jetzt nicht. Heute vor einem Jahr hätte er beinahe zum ersten Mal mit Katie geschlafen. Dann aber war es zum Streit gekommen, und Katie war davongelaufen.
An diesem Abend war sie ermordet worden.
Shaun schloss die Augen und legte sich aufs Bett. Tränen rannen ihm über die Wangen und tropften aufs Kissen. Eine halbe Stunde blieb er so liegen. Dann richtete er sich auf, nahm sein Handy und schaute sich die Fotos an: Katie in der Schule. Katie am Strand. Katie in seinem Zimmer.
Gelöscht. Gelöscht. Gelöscht.
5
Joe saß am Schreibtisch und presste sich die Finger auf die Stirn. Er tat so, als würde er einen Bericht lesen, doch vor ein paar Minuten war der Text vor seinen Augen verschwommen, als ihn wieder eine Kopfschmerzattacke überfallen hatte, die erst jetzt allmählich verebbte.
Sein Telefon klingelte. Es war Reuben Maller aus dem FBI-Büro, das für die gesamte Ostküste zuständig war. Joe und Maller waren seit ihrer ersten gemeinsamen Ermittlung gut miteinander ausgekommen. Die letzte Ermittlung, die sie gemeinsam geführt hatten, war der Fall Donald Riggs gewesen.
»Kannst du reden?«, fragte Maller.
»Ja. Was liegt an?«
»Wie geht es euch?«
»Wem?«, fragte Joe verwirrt. »Meinst du hier, in Manhattan Nord?«
»Nein. Ich meine dich, Anna und Shaun. Wie kommt ihr klar?«
»Uns geht’s gut. Warum? Was ist los?«
Maller seufzte. »Okay, was jetzt kommt, ist inoffiziell«, sagte er und senkte die Stimme. »Ich habe Neuigkeiten aus unserem Büro in Texas.«
»Was für Neuigkeiten?«, fragte Joe.
»Über Duke Rawlins.«
Joe stockte der Atem.
»Bevor du jetzt irgendetwas sagst, Joe, es ist alles ziemlich vage. Ich habe kaum Details. Und du weißt von nichts, kapiert?«
Joe kämpfte gegen aufsteigende Übelkeit an. »Okay. Aber nun sag schon, was du hast.«
»Duke Rawlins’ Heimatstadt, Stinger’s Creek? Geoff Riggs, Donalds Vater, hat gesagt, Duke habe ihn in der letzten Woche besucht. Geoff ist in übler Verfassung. Niemand weiß, wann er das letzte Mal nüchtern war. Er taumelt durch die Stadt und schimpft auf Gott und die Welt. Letzte Woche hat er zu dem jungen Burschen im Schnapsladen gesagt, Rawlins sei in der Woche zuvor bei ihm zu Hause gewesen. Der Junge bekam es mit der Angst und rief die Cops. Sie haben mit Riggs gesprochen. Ich habe den genauen Wortlaut hier vorliegen. Geoff hat gesagt: ›Klar, Dukey hat mich besucht. Er wollte mal Hallo sagen und hören, was es Neues gibt. Wollte sich mal in Donnies Zimmer umsehen. Ich hab gesagt: »Wundere dich nicht, mein Junge. In dem Zimmer steht nicht mehr viel, seitdem die im letzten Jahr alles auf den Kopf gestellt haben.« Als Dukey wieder rauskommt, geht er zu dem Schuppen hinter dem Haus, wo ich mein Werkzeug aufbewahre. Ich sag zu ihm: ›Wenn du was brauchst, Dukey, dann bedien dich. Du bist ein guter Junge.‹ Er schien ziemlich aufgeregt zu sein. Auf jeden Fall hab ich Dukey da zum letzten Mal gesehen.‹«
»Das ist alles?«, fragte Joe.
»Ja.«
»Geoff Riggs hat nicht die Cops gerufen?«
»Nein. Der Typ hat seinen ganzen Verstand versoffen. Es hat zwei Stunden gedauert, um ihm die
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