Blutberg - Kriminalroman
Seite. Beinahe, als würde sie sich schämen, war Árnis Eindruck, aber er hätte nicht darauf wetten wollen.
»Hingelegt?«, fragte Stefán, der keinen Hehl daraus machte,
wie seltsam er diese Antwort fand. Sieben Leichen auf einen Streich schafften es eindeutig, ihn aus seinem legendären Gleichgewicht zu bringen. »Los, weck den Mann, und hol ihn, und zwar dalli«, schnaubte er. »Árni, du fährst mit ihr und notfalls bringst du den verdammten Kerl mit Tritten auf die Beine, wenn nichts anderes hilft.« Er klatschte sich die schäbige Kappe wieder auf den Schädel und murmelte etwas vor sich hin, was zwar nicht in dem Riesenraum widerhallte, aber Árni glaubte es trotzdem zu verstehen. Er gab Björg ein Zeichen, dass es besser wäre zu schweigen und schleunigst mit ihm hinauszugehen. Sie folgte seinem Rat.
»Und was sollen wir jetzt machen?«, fragte der Hund, nachdem sich die Tür hinter Björg und Árni geschlossen hatte. »Ich bin ja schließlich kein Rechtsmediziner. Das habe ich dir schon gesagt, bevor du uns hierher verfrachtet hast.«
»Friðjón Hörður Karlsson«, sagte Stefán, jede Silbe betonend, »ich bin mir vollkommen im Klaren darüber, dass du kein Rechtsmediziner bist. Aber du hast Augen im Kopf, und ihr beide seid zumindest wesentlich erfahrener als irgendjemand sonst hier an diesem gottverlassenen Ort. Ihr sollt herausfinden, ob in Anbetracht der uns bekannten Tatsachen irgendetwas hier anders ist als es sein sollte. Ich bitte um kein Wunder, ich bitte auch nicht um eine Todesursache. Ich möchte bloß, dass ihr diese Leichen so genau wie möglich untersucht und die Schlüsse zieht, die ihr ziehen könnt. Ich möchte, dass ihr das zusammen macht und eure Ergebnisse miteinander vergleicht. Falls es unterschiedliche Meinungen gibt, möchte ich das wissen und auch, wenn ihr derselben Meinung seid. Und ich möchte, dass ihr hier beginnt«, sagte er und ging vor dem Sarg von Ásmundur in die Hocke. »Ihr habt den Tatort inspiziert, nun ist die Leiche dran.« Er war selbst überrascht, als er unwillkürlich das Zeichen des Kreuzes über seinem Schulkameraden schlug, bevor er aufstand. »Alles klar?«
Eydís wartete geduldig, während der Hund seine Nickelbrille abnahm, sie sorgfältig mit einem Hemdzipfel putzte und wieder aufsetzte. Er rümpfte die Nase und hüstelte.
»Wie du willst«, sagte er kurz angebunden, »wir sehen uns das an. Aber das, was wir sagen, ist weder endgültig noch offiziell. Das muss ganz klar sein«, erklärte er und ließ seine Blicke zwischen Eydís und Stefán hin und her gehen.
»Das ist ganz klar«, sagte Stefán. Er begab sich zur Südwand der Halle und ließ sich auf einem Querbalken nieder, schloss die Augen und versuchte, nur durch den Mund zu atmen. Obwohl der Leichengeruch durch die Kälte, den Durchzug und die Größe der Halle merklich gemildert wurde, war er trotzdem wahrnehmbar, unangenehm süßlich und penetrant. Stefán dachte an Ragnhildur. An das Ferienhaus in Nordisland, das sie sich zulegen wollten. An die Kinder und Enkelkinder. An den Duft der Birken im Vaglir-Wald und an die neueste Rotweinproduktion in der Waschküche zu Hause. Trotzdem drang ihm der Leichengeruch in die Nase, und er wünschte sich heiß und innig, eine Zigarre rauchen zu können. Die flüsternde Unterhaltung zwischen Eydís und dem Hund war in der eiskalten Leere nur allzu deutlich zu hören und verschlimmerte alles nur. Unwillkürlich begann er, sich mit der flachen Hand die unrasierten Wangen zu reiben, und wiegte sich vor und zurück wie ein Kind, das versucht, die Vorhaltungen der Eltern zu ignorieren. Und damit hörte er erst auf, als die beiden einige Minuten später vor ihm standen.
»Und?«, fragte er.
»Wie ich bereits sagte, bin ich kein …«, setzte der Hund mit erhobenem Zeigefinger an.
»Ja, ja, du bist kein Rechtsmediziner«, schnaubte Stefán ungeduldig, »aber was ist Sache?«
»Er hat eindeutig versucht, sich zu erhängen«, erklärte der
Hund ungewöhnlich zahm, »und wir sind beide der Ansicht, dass ihm das gelungen ist. Zumindest ist nichts anderes zu sehen. Keinerlei Verletzungen, außer natürlich die Spuren vorne am Hals, die noch ein Stück weiter nach hinten gehen. Es passt alles ganz genau zu den Beschreibungen, wie man ihn vorgefunden hat. Du hast ihn gekannt, nicht wahr?«
»Ja, ich habe ihn gekannt«, gab Stefán zu. »Ein wenig gekannt. Wir waren zusammen im Gymnasium.« Er räusperte sich. »Das spielt aber kaum eine Rolle. Seht euch die
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