Blutbraut
Innenseiten vom Handgelenk bis fast in die Ellenbeuge hinauf mit Kratzern bedeckt. Von denen einige noch sehr frisch waren. Möglicherweise sogar von der Spitze einer Schere. Mein Magen zog sich zusammen. »Mercedes ist zu seinem Patron gegangen und hat ihm gesagt, dass Fabián schon fast ganz Nosferatu ist. Damit der seinen Henker schickt. Sie wollte ihn für sich.« Sie ließ die Hand sinken, strich über ihr Nachthemd. »Ist mein Kleid nicht schön. Fabián sagt, es ist gut, dass man mir meinen Zustand noch nicht ansieht.« Zustand? War sie schwanger? »Du willst mir Fabián nicht wegnehmen. Nein, das willst du nicht.« Wieder ein Schritt auf mich zu. Ich drückte mich langsam um die Spitze des Blütenblattes herum. »Hast du ihn gesehen? Ich habe ihn überall gesucht. Sogar unter den Rosen. Ich warte schon die ganze Nacht auf ihn.« Sie spielte mit der Schere. Drückte die Spitze in ihre Fingerkuppe. Bis Blut kam. Beobachtete entzückt, wie sich ein großer Tropfen bildete.
»Nicht …« Ich machte einen Schritt auf sie zu, blieb aber abrupt stehen, als sie den Blick wieder hob.
»Warum kommt er nicht?« Sie beugte sich näher zu mir. »Ich werde ihn verstecken, damit Joaquín ihn diesmal nicht findet.« Joaquín? Was hatte er damit zu tun? Verschwörerisch legte sie den Finger auf die Lippen. »Du darfst mich nicht verraten. Sie
wollen nicht, dass er mit jemandem wie mir zusammen ist. Sie will ihn für sich.« Ihr Tonfall veränderte sich, war mit einem Mal lauernd, zischend. »Du wirst ihn nicht an den Patron verraten, ihn mir nicht wegnehmen. Ich lasse nicht zu, dass sie ihn töten. Er hat jetzt mich. Er wird nicht noch mehr Nosferatu. Er hat noch keine Schwingen.« Sie umklammerte die Schere wie einen Dolch. »Hörst du?« Ich schluckte, nickte, wagte ansonsten nicht, mich zu rühren. Sich in irgendwelchen billigen Fitnessstudios in Selbstverteidigungskurse zu schmuggeln, um sich gegen irgendwelche Typen wehren zu können, war eines. Eine offenbar verrückte junge Frau mit einer Schere vor sich zu haben, etwas ganz anderes. »Hörst du mich? Er hat jetzt mich!« Ihre Stimme war ein Fauchen und Wimmern zugleich. »Niemand nimmt mir meinen Fabián weg. Niemand tut ihm …«
»Anna.« Gerade laut genug, dass es nicht in ihren Worten unterging. Sanft, beinah zärtlich.
Sie hielt inne, neigte den Kopf auf dieselbe vogelhafte Art wie zuvor zur Seite, lauschte, wandte sich dann nach der Stimme um. Jetzt wagte ich auch einen hastigen Blick zur Seite. Er stand keinen Meter von uns entfernt. Ich sah wieder zu der jungen Frau. Warum merkte ich eigentlich erst jetzt, dass meine Hände zu Fäusten geballt waren und ich am ganzen Körper zitterte?
Ein Strahlen glitt über ihr Gesicht. »Joaquín.« Sie klang wie ein Kind, das gerade seine lang vermisste Lieblingspuppe wiedergefunden hatte.
»Was machst du hier draußen, Anna? Es ist mitten in der Nacht. Du bist ganz nass, querida.« Er hörte sich beinah wie ein großer Bruder an, der seine kleine Schwester beim Schlafwandeln erwischt. Langsam kam er weiter auf uns zu.
»Ich war im Brunnen.«
»Das habe ich mir gedacht. Warum warst du im Brunnen? – Gib mir die Schere.«
»Ich weiß es nicht.« Das Strahlen auf ihrem Gesicht wich einem Stirnrunzeln. »Du bist wie er.«
»Sí, querida. Das bin ich. – Gib mir die Schere. Du brauchst sie nicht.« Er streckte die Hand danach aus.
Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. »Du bist nicht Fabián. Wo ist mein Fabián?« Sie sog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Ich habe dich gespürt.«
»No, ich bin nicht Fabián. – Fabián kommt nicht wieder, querida. Er ist fort. Für immer. Erinnerst du dich nicht? – Gib mir die Schere, Anna.«
»Fort?« Plötzlich huschten ihre Augen umher. Auf der anderen Seite des Brunnens war eine ältere Frau stehen geblieben. Ganz offensichtlich ziemlich atemlos. »Fort. Ja, fort. Joaquín hat ihn umgebracht.«
Ich starrte von ihr zu ihm und zurück.
»Fort.« Wieder legte sie den Kopf auf die Seite.
»Sí, fort. Für immer.« Vorsichtig kam er einen weiteren Schritt heran. Er müsste nur die Hand ein klein wenig mehr ausstrecken, um die Schere zu fassen zu bekommen.
Mit einem Kreischen warf sie sich auf ihn und stach blitzschnell zu. Die Frau auf der anderen Seite des Brunnens schrie erschrocken. Es ging in Annas Heulen unter.
Eine Sekunde stand ich wie erstarrt, doch als ich dann versuchte, nach ihr zu greifen, war es schon zu spät. Sie war nie über den ersten Stich
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