Blutbraut
hinausgekommen. Als sie zum zweiten ausholte, hatte er ihr Handgelenk gepackt und die Spitze der Schere von sich weggelenkt. Jetzt hing sie noch immer kreischend
und um sich tretend in seinen Armen, den Rücken an seine Brust gepresst, und wiederholte wieder und wieder geradezu schmerzhaft schrill: »Mörder! Du hast ihn umgebracht!« Er sagte nichts. Hielt sie einfach nur fest. Die Arme um ihre Taille geschlungen, fast sanft. Das Gesicht von ihr abgewandt. Die Oberlippe in einem lautlosen Knurren gefletscht, als würde er jede Sekunde die Zähne in ihren Hals schlagen und sich nur mit Mühe zurückhalten. Die Schultern verkrampft. Die Schere lag zu ihren Füßen am Boden. Joaquín kickte sie weg. Genau auf mich zu. Ob mit Absicht oder nicht, konnte ich nicht sagen. Die Spitze glänzte rot. Ich hob sie vom Boden auf, als könnte sie mich beißen.
»Anna! Anna, mi niña, es ist gut. Komm zu dir! Anna!« Die ältere Frau eilte mit vorgestreckten Händen an mir vorbei. Beinah schlagartig erschlaffte Anna in Joaquíns Armen. Ihr Kreischen verebbte zu einem Wimmern. »Luisa!« Sie streckte ihrerseits die Hände nach der Frau aus. »Luisa!« Mit unübersehbarem Zögern gab Joaquín sie frei. Und schien zugleich erleichtert, sie loslassen zu können. Ihre Fingernägel hatten Spuren auf seinen Unterarmen hinterlassen. Sie flüchtete geradezu in Luisas Umarmung, barg den Kopf an ihrer Brust. Die zog sie noch näher an sich. »Es ist gut, mi niña. Alles ist gut. Du hast nur schlecht geträumt.« Beruhigend strich sie Anna übers Haar, die jetzt leise vor sich hin summte; die Augen weit aufgerissen und wieder abwesend-träumerisch. Wie zuvor. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Blut hing daran. Luisa sah zu Joaquín, der sie und Anna wortlos betrachtete – einen seltsamen Ausdruck im Gesicht. Fast so etwas wie … Schmerz. Oder … Bedauern. Wann war er von uns allen zurückgewichen? Er zitterte, als kämpfe er gegen Fieberschauer an. »Es tut
mir leid, Patron. Sie ist schon seit ein paar Tagen sehr unruhig, wandert nachts umher und fragt immer wieder nach Fabián.« Sie wiegte die junge Frau in ihren Armen hin und her. »Aber bisher hat sie noch nie das Haus verlassen. – Ich habe erst gemerkt, dass sie fort ist, als ich eben noch einmal nach ihr sehen wollte.«
»Fort«, flüsterte Anna verträumt in ihre Faust.
Joaquín nickte angespannt. »Vielleicht hat sie mich in der Stadt gespürt. Ich werde mich in Zukunft nachts von San Isandro fernhalten, wenn das ihren Zustand verschlimmert.« Seine Stimme klang, als würde er versuchen zu sprechen, ohne zu atmen. Er zitterte immer stärker. Wie ein Junkie auf Entzug. Seine Oberlippe zuckte. Sah Luisa das denn nicht? Und fiel ihr nicht auf, dass seine Stimme kaum mehr als ein heiseres Grollen war, das keinerlei Ähnlichkeit mit seinem gewöhnlichen, weichen Bariton hatte? »Zum Glück ist nichts passiert.« Er sah über uns hinweg, gab jemandem ein Zeichen. »Lope und Felipe begleiten Anna und dich nach Hause, Luisa.«
Überrascht schaute ich hinter mich. Meine beiden ›Entführer‹ kamen gerade mit langen Schritten um den Brunnen herum. Auf der anderen Seite des Platzes verfolgten von Elenas Cantina aus noch andere das Schauspiel hier. Ein weiterer Mann hielt von dort ebenfalls auf uns zu. Miguels Großmutter stand in der Kirchentür. Ein schwarzer Rosenkranz hing von ihren Händen. Hatte ich tatsächlich angenommen, wir wären noch allein?
Lope und Felipe begrüßten Luisa mit einem Nicken und einem gemurmelten »¡Buenas tardes!«, das sie mit einem müden Lächeln erwiderte, während sie zugleich den Arm um die Schultern der jungen Frau legte.
»Komm, mi niña, du bist ganz nass. Lass uns heimgehen, eh du dir noch den Tod holst. Was hast du nur angestellt?«
»Ich war im Brunnen.« Die junge Frau gluckste leise, summte dann weiter.
Lope räusperte sich. »Hier, Anna, nimm meine Jacke.« Geschmeidig glitt er aus den Ärmeln und legte sie ihr um. Sekundenlang strahlte sie ihn an, doch dann runzelte sie wie zuvor die Stirn. »Du bist nicht wie er.« Luisa konnte gerade noch verhindern, dass sie die Jacke wieder abstreifte. Auf Lopes hilflosen Blick schüttelte sie nur beruhigend den Kopf.
»Nein, das ist er nicht, aber es ist nett, dass er dir seine Jacke leiht. Und jetzt komm heim, Anna. Ich bin eine alte Frau, die ihren Schlaf braucht.« An Anna vorbei sah sie dann zu mir, lächelte mich an. »Es freut mich, dass Sie mein Tuch tragen, Sanguaíera. Ich hoffe, es
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