Blutbraut
auch wenn es anscheinend nur für meine Ohren bestimmt war –, und ging an Jorge und mir vorbei. Zu meinem Erstaunen ebenfalls in Richtung des Escalade. Wobei Jorge wohl noch deutlich erstaunter darüber war, dass er vor uns herging.
Eine Sekunde zögerte ich, nicht sicher, ob der Mann irgendwelche Erklärungen von mir erwartete, dann folgte ich Joaquín einfach wortlos. Nach wie vor hielt er auf den Escalade zu. Der Platz um den Brunnen war wieder vollkommen verlassen.
Vor uns passierte Joaquín Jorges Wagen und verschwand dahinter, nachdem er wie beiläufig mit den Fingerspitzen über einen der Scheinwerfer gestrichen hatte.
Gleich darauf hatten auch Jorge und ich den Escalade erreicht, und als ich um dessen Heck herum zur Beifahrertür ging, entdeckte ich den Lamborghini ein paar Meter weiter an der Straßenecke. Der Wagen war ziemlich staubig, sodass der weiße Lack eher gelblich wirkte. Wer würde sich von nun an um seinen Rennstall kümmern, jetzt, da Miguel … nicht mehr da war? Was würde aus dem halb zerlegten Camaro werden?
»Sanguaíera?« Ich drehte mich zu Jorge um, der mich über die Motorhaube des Escalade hinweg ansah, öffnete nach einem letzten Blick zu Joaquín, der mit langen Schritten auf den Lamborghini zuhielt und gerade die Hand in die Hosentasche schob, die Tür und glitt auf meinen Sitz.
Jorge stieg ebenfalls ein, startete den Motor, setzte zurück und wendete. Die Scheinwerfer glitten über Joaquín neben der
Fahrertür des Lamborghini. Er hatte das Tablettenfläschchen in der Hand. Im Vorbeifahren sah ich, wie er offenbar mehrere auf seine Handfläche klopfte, sie mit einer harten Bewegung schluckte. Ich klappte die Sonnenblende herunter, schob die Abdeckung des Schminkspiegels beiseite und schaute hinein. Der Mond war gerade hell genug, um zu erkennen, dass er beide Hände gegen den Türholm gestemmt hatte, den Kopf gesenkt. Eben nahm er eine weg und drückte sie gegen seinen Magen, als sei ihm unvermittelt schlecht. Hastig drehte ich mich in meinem Sitz um. Hatte das irgendetwas mit diesen Tabletten zu tun? Waren das die gleichen, die er damals genommen hatte, als ich nach diesem Cage-Fight bei ihm im Auto saß? Und die ich ihn in den letzten Tagen auch immer wieder während meiner Stunden in seinem Laboratorium hatte hinunterwürgen sehen? Wofür waren sie? Wie viele hatte er geschluckt? Oder hatte Anna ihn mit der Schere schlimmer erwischt, als ich angenommen hatte? Ich hatte kein Blut gesehen, er hatte nicht gehinkt oder sich auch nur ansatzweise weniger geschmeidig bewegt als sonst … Ich wollte Jorge schon sagen, er solle anhalten, zurückfahren, da richtete er sich wieder auf und stieg in den Wagen. Gleich darauf flammten die Scheinwerfer auf. Bis wir die Ausfahrt erreicht hatten, war der Lamborghini direkt hinter uns. Ohne es im ersten Moment wirklich zu merken, legte ich die Hand um den Türgriff. Als das letzte Mal Scheinwerfer so dicht hinter dem Wagen gewesen waren, in dem ich saß, war ich in Fernáns Klinik wieder zu mir gekommen. Ich verdrängte den Gedanken und sah zu Jorge hinüber. Er schien vollkommen entspannt, hatte eine Hand am Lenkrad, den Ellbogen locker auf der Tür, die andere auf der Armlehne zwischen uns. Jorge. Der Name sollte mir etwas sagen …
»Der Patron war heute Nacht ziemlich angespannt.«
Ich zuckte zusammen, als er unvermittelt in die Stille zwischen uns hineinsprach.
»In Gegenwart von Anna und Ihnen«, ergänzte er, als ich weiterhin schwieg. Ich beobachtete die Scheinwerfer des Lamborghini im Schminkspiegel, wusste nicht, was ich sagen sollte. Offenbar erwartete er jedoch gar keine Antwort von mir. »Ein paarmal bin ich ihm in den letzten Tagen nachts begegnet, da hatte ich zwischendurch das Gefühl, dass seine Augen heller sind als sonst.« Er sah kurz zu mir her, nur um sich direkt wieder auf die Straße zu konzentrieren. »Aber ich muss mich wohl getäuscht haben, nicht wahr?« Ich versuchte, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Bedeutete das … sie wussten gar nicht, dass er schon … dass ihn nicht mehr wirklich viel davon trennte, endgültig Nosferatu zu werden? Jorge hatte heute Nacht nah genug gestanden, um seine Augen sehen zu können. Augen, die nahezu vollkommen farblos gewesen waren. Und auch Luisa und die beiden anderen Männer. Sie hätten schon blind sein müssen, um das nicht zu bemerken. Aber nur Anna hatte offenbar tatsächlich dasselbe gesehen wie ich. Weil wir beide dasselbe waren: Blutbräute. Und
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