Blutbraut
Rogier hatte gesagt, dass keiner von ihnen vor einer Blutbraut ›sein wahres Äußeres‹ bei Nacht verbergen konnte. Egal wie mächtig er auch war. – Das bedeutete, auch vor den Leuten aus San Isandro verheimlichte er, wie nahe er schon daran war, endgültig Nosferatu zu werden. Nun, genau genommen hatte bis zu meiner Ankunft auf Santa Reyada selbst Cris anscheinend nichts davon gewusst. Hatte er Angst, dass sie ihn an die Hermandad verraten würden? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie wussten, wie weit es mit ihm schon war. Sonst hätte Rogier mir sicherlich nicht
diese Fragen über ihn gestellt. »Auch wenn er anscheinend seit Kurzem häufiger trinkt als sonst.« Wieder ein schneller Blick von Jorge zu mir. »Gerüchteweise hat er nicht nur bei uns in San Isandro gegen seine Gewohnheit den Blutzoll eingefordert, sondern war auch in Palm Springs jagen.«
Gegen seine Gewohnheit? Was sollte das heißen? Dass er normalerweise gar nicht nach San Isandro ging, um sich Blut zu holen? »Und nicht nur da, sogar in San Diego und L.A.«
»Woher wissen Sie das?« Nein. Das war unmöglich. Oder? Jorge lachte. »Es ist mein Job, solche Dinge zu wissen, Sanguaíera. Ich bin sein Sicherheitschef. Der Patron mag zwar keinen Leibwächter im eigentlichen Sinne benötigen, aber ich bin trotzdem dafür verantwortlich, dass ihm nichts zustößt. Und jetzt auch Ihnen, Sanguaíera.« Er warf einen Blick in den Rückspiegel. Ich tat es ihm nach. Die Scheinwerfer des Lamborghini tauchten gerade in der Kurve auf, die wir eben selbst erst hinter uns gelassen hatten.
»Und deshalb werde ich auch ganz nebenbei und sehr freundlich ein paar Worte mit dem guten Cristobál wechseln.« Abermals sah er eine Sekunde zu mir. Diesmal erschreckend ernst. »Es war unverantwortlich von Cris, mit Ihnen nach Los Angeles zu fahren, ohne irgendjemandem etwas davon zu sagen. – Vor allem nach der Sache mit Miguel und Inés.« Ein neuerlicher Blick in meine Richtung. »Ja, ich weiß davon. Ich war auf Ihrer Fiesta, Sanguaíera. Und ich stand in der Nähe des Durchgangs nach draußen.« In der Andeutung einer Bewegung schüttelte er den Kopf. »Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie es mich das nächste Mal wissen lassen würden, wenn Sie Santa Reyada allein – oder auch nur mit Cristobál zusammen – verlassen. Egal wie lang. Egal zu welchem Zweck.« Er griff in die Innentasche
seines Sakkos, zog eine Visitenkarte hervor und hielt sie mir hin. Gehorsam nahm ich sie ihm ab – ein Name stand darauf, ›Jorge A. Hernandez‹, und zwei Telefonnummern – und versenkte sie in die Tasche meines Kleides. »Ich verspreche Ihnen, Sie werden weder mich noch meine Leute sehen, aber Sie sind für uns zu wichtig, als dass wir das Risiko eingehen möchten, dass Ihnen etwas zustößt. Und es gibt mehr als genug Parteien, denen genau das zupasskommen würde.«
»Warum?«
»Verzeihung?«
»Warum bin ich zu wichtig?«
Eine Sekunde starrte er mich an, als hätte ich ihm gerade erklärt, ich sei ebenso verrückt wie Anna, dann riss er seinen Blick wieder von mir los, lenkte ihn zurück auf die Straße. »Weil Sie die Sanguaíera unseres Patrons sind. Und weil er der Einzige ist, der zwischen San Isandro und Tomás de Silva und dem ganzen Rest der Hermandad steht.«
Ich nickte nur und sah aus dem Fenster. Das Gleiche hatte Elena gesagt. Beinah wortwörtlich. Im Seitenspiegel blendeten mich kurz die Scheinwerfer des Lamborghini. › In der Hermandad heißt es ›jeder gegen jeden. ‹ – Auch wenn ich es nur zu gern getan hätte: Ich verkniff mir, ein weiteres Mal nach dem ›Warum‹ zu fragen? Ich wollte Antworten, ja. Aber um sie zu bekommen, würde ich nicht mit einem für mich Fremden reden, sondern mit ihm.
21
A ls Santa Reyada schließlich vor uns auftauchte, beugte ich mich in meinem Sitz ein bisschen vor, auf der Suche nach einem Lichtschimmer oder irgendeinem anderen Hinweis, dass jemand da war. Nichts. Wo mochte Cris sein? Er war so wütend und … verletzt gewesen …
Hoffentlich stieß ihm nichts zu – oder machte er irgendwelche … Dummheiten.
An der Gabelung in der Einfahrt scherten die Scheinwerfer hinter uns plötzlich aus und gleich darauf röhrte der Lamborghini jenseits der Hecke, auf der Zufahrt zu den Garagen, an uns vorbei. Jorge nahm den Bogen, der zum vorderen Eingang führte, und hielt direkt vor den Stufen zur Haustür. Während ich noch immer nach einem Hinweis suchte, dass Cris irgendwo im Haus war, umrundete er den
Weitere Kostenlose Bücher