Blutbraut
kam es mir von hier aus so vor.
»Es ist nicht mehr weit.«
Ärgerlich biss ich die Zähne zusammen. Hatte ich irgendeinen Laut von mir gegeben? Am Ende ein Stöhnen oder irgendetwas Verzweifeltes? Vermutlich hielt er mich für ein entsetzliches Weichei. Eine schwache kleine Stadtpflanze. Nun, ich mochte ein Stadtkind sein, aber schwach? Garantiert nicht. Das hier war nur ganz einfach nicht mein Element. Ich liebte das Wasser. Felsen waren … eben Felsen. Der Blick, den ich ihm zuwarf, war mörderisch. Hoffte ich. Auf jeden Fall hob er in einer abwehrenden Geste die Hände. Doch als er mich weiter auf diese forschende Art musterte, stieß ich ein Fauchen aus. »Hoffentlich ist das, was du mir zeigen willst, es wert. Geh schon weiter!«
Er hob zwar eine Braue, sagte aber nichts, sondern drehte sich wortlos um und ging vor mir her. Wie zuvor offenbar bereit, mich jederzeit aufzufangen, falls ich stolperte oder mein eigener Schwung mich zu weit trug.
Eine Rinne gab es auf dieser Seite nicht mehr, der wir hätten folgen können. Es ging von Felsblock zu Felsblock. Zwischen denen teilweise ziemlich breite Spalten klafften. Oder die völlig unvermittelt senkrecht abbrachen, sodass da plötzlich ein Absatz, oder sogar ein Überhang, war – nachdem sie zuerst nur sanft abgefallen waren. Manche dieser Absätze bewältigte ich
auf meinem Hinterteil, weil mir regelmäßig knapp vier Inch Beinlänge fehlten, um die Distanz halbwegs bequem – und sicher – überbrücken zu können. Er musste natürlich nur einen großen Schritt machen. Die Hand, die er mir jedes Mal entgegenstreckte, übersah ich geflissentlich. Nach zwei Minuten hatte ich ihm grummelnd meine Wasserflasche vor die Brust geknallt, damit er sie für mich weitertrug, weil das dumme Ding mir immer irgendwie im Weg herumbaumelte. Nach weiteren fünf Minuten beschwerte ich mich beim Universum lautstark über Männer mit zu langen Beinen. Und er verpasste vor lauter Lachen fast einen Tritt. Dass ich befriedigt »Ha!« machte, raubte ihm dann mehr oder weniger endgültig den Atem. Wir brauchten beide noch einmal fünf Minuten, in denen wir uns unter einen dieser elenden Absätze in den Schatten kauerten, um wieder halbwegs vernünftig Luft zu bekommen. Verrückterweise machte mir diese Kletterpartie nach wie vor Spaß. Okay, zugegeben, das hier war … etwas Besonderes. Aber trotzdem: Ich fühlte mich wohl. Auch mit ihm. Warum, konnte ich mir selbst nicht erklären. Vielleicht weil ich noch nie gehört hatte, wie Joaquín de Alvaro vor Lachen beinah einen Schluckauf bekam?
Was meine Stimmung dämpfte, war der Umstand, dass er ohne Vorwarnung plötzlich aufstand und sich hastig aus dem Schatten des Vorsprungs herausduckte, während er das Fläschchen schon aus der Hosentasche zerrte und zwei Tabletten daraus hinunterwürgte. Bevor ich noch irgendetwas sagen – oder auch nur denken – konnte, hatte er ein paar Schritte Distanz zwischen uns gebracht, war auf einem Felsen ein kleines Stückchen tiefer stehen geblieben, den Rücken mir zugewandt, und starrte scheinbar ins Nichts. Ich verdrängte den Gedanken
daran, was beim letzten Mal geschehen war, als er zu viele dieser Tabletten über den Tag hinweg geschluckt hatte; brachte die hartnäckige Stimme in meinem Kopf zum Schweigen, die glaubte, mich daran erinnern zu müssen, dass ich hier draußen mit ihm allein war … Wir hatten helllichten Tag! Ich hatte selbst gehört, wie er zu Fernán gesagt hatte, dass er bei Tag nicht trank. Niemals.
Aber auch als wir schließlich weitergingen, blieb er angespannt und ein mulmiges Gefühl hing irgendwo in meinem Magen.
Abgesehen von zwei weiteren Rutschpartien auf meinen vier Buchstaben, bewältigte ich den nächsten Teil unseres Abstiegs halbwegs problemlos. Es schien ihn Überwindung zu kosten, nur auf Armeslänge in meine Nähe zu kommen, um mir die Hand anzubieten, um mir auf – oder über eine breitere Spalte zwischen den Felsblöcken hinwegzuhelfen. Ich ignorierte sie weiter. Und war mir dabei nicht sicher, warum meine Kehle sich jedes Mal zusammengezogen und mein Herz seine Schlagzahl erhöht hatte.
Ich hatte mich schon in Gedanken darauf vorbereitet, den Hang auf der anderen Seite wieder hinaufzuklettern, doch als wir den tiefsten Punkt erreicht hatten, dirigierte er mich auf einem langen, flachen Felsen ein paar Meter nach links, über eine Spalte hinweg, bei der ich wirklich seine Hand benötigte, und dann auf der gegenüberliegenden Seite in einen weiteren,
Weitere Kostenlose Bücher