Blutbraut
selbst, ballte ich die Fäuste, zwang mich ein paar Mal langsam ein – und auszuatmen.
»Welches war das Haus deiner Familie?«, fragte ich nach einer geschlagenen Minute endlich.
»Das da drüben.« Ich wandte mich um. Er wies auf eines der Gebäude zu meiner Linken. Jetzt ließ er den Arm wieder sinken, beobachtete mich, wie ich hinüberging und mich ähnlich wachsam wie schon in der Kirche unter dem Türsturz hindurchduckte, vorsichtig über den Schutt hinwegtrat. Auch hier waren die Fenster nur schmale, längliche Schlitze, die mehr Ähnlichkeit mit Schießscharten hatten als mit richtigen Fenstern. Die Außenmauern waren zwar im hinteren Bereich zum überwiegenden Teil eingestürzt, trotzdem stand noch genug davon, um zu erkennen, dass das Haus nicht groß gewesen war. Anscheinend hatte es gerade mal aus zwei Zimmern bestanden. Das, in dem ich mich soeben um mich selbst drehte, musste die Küche gewesen sein. Zumindest deutete etwas, das wie eine altertümliche Herdstelle aussah, darauf hin. Ob es zwei Stockwerke gehabt hatte? Irgendwie bezweifelte ich es.
»Dachtest du, meine Familie wäre von Anfang an wohlhabend gewesen?« Offenbar war ihm nicht entgangen, wie überrascht ich mich umgesehen hatte.
Beklommen nickte ich.
»Weil das Santa Reyada, das du kennst, so groß und … imposant ist?«
Wieder nickte ich. »Wie hätte dein Urgroßvater es sonst bauen können? Oder war er das gar nicht?«
»Doch, Santa Reyada war sein Werk.« Er kam ein Stück hinter mir her, blieb dann aber neben dem Brunnen stehen. »Als er aus Rouen zurückkam und hier alles in Trümmern fand, soll er geschworen haben, für die, die ihr Leben unter seinen Schutz gestellt hatten, eine uneinnehmbare Zuflucht zu bauen. Er forderte ein paar Gefallen ein, von Leuten, die an den entsprechenden Stellen saßen und entweder selbst einflussreich waren oder noch einflussreichere Freunde hatten, und schaffte es, dass ihm das ganze Land um Santa Reyada in einem Umkreis von mehreren Tausend Morgen übereignet wurde.«
Ich schluckte. »Das alles gehört dir?«
»Meiner Familie.« Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite, betrachtete mich irgendwie nachdenklich. »Während die Überlebenden des Massakers das hier hinter sich ließen und San Isandro bauten, um dort neu anzufangen, baute er unser Santa Reyada. Heimlich, weil er zumindest den de Silvas nicht traute. Allerdings nicht mit Geld, sondern mit Magie.«
»Magie?« Ich legte die Hand gegen die Mauer, während ich über die Trümmerbrocken im Eingang wieder aus den Überresten des Hauses heraustrat. Und zog sie hastig zurück, als etwas wie ein heißes Kribbeln durch sie hindurchschoss.
»Sí, Magie. Ich weiß nicht genau wie, aber ich schätze, er hat Elementare beschworen, die es für ihn gebaut haben. Und Steine gab es in dieser Gegend genug.«
»Elementare?« Verstohlen rieb ich mir die Handfläche. Das Kribbeln verebbte nur langsam.
»Elementargeister. Sozusagen eine Art … metaphysische Manifestation der Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft in ihrer
reinsten Form. Ziemlich mächtig. Man sollte es sich mit ihnen nicht verscherzen.« Mit dem Fuß schob er ein paar kleine Steine an die Umrandung des Brunnens. »Aber so viel Magie hat ihren Preis. In dem Jahr, in dem das ›neue‹ Santa Reyada fertig wurde, wurde er endgültig Nosferatu. Und beging Selbstmord.«
»Selbstmord?« Ich schauderte.
»Selbstmord. – Er rammte sich einen eisernen Spieß durchs Herz, um das Unglück und die Schande, die es bedeutete, wenn die Hermandad Jagd auf ihn machen und ihn hinrichten würde, nicht über seine Familie zu bringen.« Er wies mit dem Kinn zum Brunnen. »In derselben Nacht soll der hier ausgetrocknet sein und der in San Isandro und der unter unserem Santa Rayada erwachten zum Leben.«
Irgendwie unbehaglich rieb ich mir die Arme.
Joaquín runzelte die Stirn. »Ist dir kalt?«
»Nein, aber …« Ich sog die Lippe zwischen die Zähne. »Das klingt alles so … so …«
»… seltsam? Unglaublich?«
»Ja. Und … traurig.«
Zu meinem Erstaunen nickte er verstehend. »Meine Familie hatte schon immer ein anderes Verhältnis zu diesem Land als die de Silvas oder Moragas. Nicht jeder kann das nachvollziehen. Manche finden es sogar beängstigend.« Mit einem Laut, der wie ein Seufzen klang, hob er in einer kaum sichtbaren Bewegung die Schultern. »Seltsamerweise scheint Cris diese Verbundenheit vollkommen abzugehen.« Täuschte ich mich oder schwang Trauer in seiner Stimme mit? Doch
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