Blutbraut
mein Leben damals, hier auf Santa Reyada. Selbst dieser Tomás. Nur ich nicht.« Wieder schüttelte ich den Kopf. Sogar in meinen eigenen Ohren klang das lächerlich. Und vielleicht hätte ich vor ein paar Tagen den Umstand, dass ich nichts, aber auch gar nichts über meine Zeit hier wusste, noch mit einem Schulterzucken abgetan – allerdings hatte ich da ja auch noch gedacht, Tante María sei tatsächlich meine Tante gewesen. Jetzt aber … Es war wie ein Loch in meinem Inneren. Und ausgerechnet dieser Tomás
hatte es mit seinem blödsinnigen Gerede aufgerissen, hatte einfach den Deckel beiseitegezerrt. »Vieles hier fühlt sich so vertraut an … Selbst der Flügel und dieses verdammte Lied … Aber es ist wie hinter einem Schleier, durch den ich nicht hindurchkomme …«
»Lo siento.« Er sprach so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. »Es tut mir leid.«
Ich schaute zur Seite, biss mir auf die Lippe. Kämpfte gegen den Kloß an, der plötzlich in meiner Kehle brannte. Und zuckte zusammen, als Joaquín nach meiner Hand griff.
»Komm mit.« Mehr sagte er nicht, machte kehrt, zog mich hinter sich her. Die Treppe hinauf.
»Wohin? Was …«
»Ich will dir etwas zeigen. Etwas, das ich schon vor Tagen hätte tun sollen.« Er drehte sich nicht um, ging einfach weiter, meine Hand in seiner. Irgendwie hilflos warf ich einen Blick hinter uns. Rafael stand noch immer in der Tür zum Arbeitszimmer und sah uns nach, scharfe Linien auf der Stirn.
Wohin er mit mir wollte, war mir spätestens dann klar, als wir die Treppe in den zweiten Stock hinaufstiegen. Meine Hand nach wie vor in seiner.
Erst in seinem Laboratorium ließ er mich los, doch er ging nicht zu dem verhängten Spiegel, wie ich angenommen hatte. Stattdessen öffnete er eine Schublade an einem der Tische und förderte nach einem Moment des Suchens eine Spiegel scherbe, ungefähr so groß wie ein Blatt Papier, zutage, legte sie auf die Tischplatte. Wie beim letzten Mal füllte er eine Steinschale mit Wasser, winkte mich schließlich zu sich an den Tisch.
»Du willst dich wirklich erinnern? An alles? Wirklich absolut
alles? Gleichgültig, ob gut oder schlecht?« Seine Stimme, seine Miene, seine Augen … alles war hart, als er mich ansah.
Von einer Sekunde zur nächsten schlug mein Herz wie verrückt. »Was?«
»¿Sí o no?«
Ich presste die Hand gegen die Kehle, nickte.
»Sag es!«
»J-ja.«
Ohne den Blick von mir zu lösen, griff er nach der Spiegelscherbe auf dem Tisch, hielt sie mir hin. »Nimm sie in beide Hände. Aber pass auf, dass du dich nicht schneidest. Die Kanten sind scharf.« Dass ich erschrocken von der glänzenden Scherbe aufsah, entlockte ihm ein zynisches Lächeln. »Keine Sorge, ich tue dir nichts. Ich habe vergangene Nacht von zwei Nosferatu … getrunken. Meine Gier hält sich in Grenzen. « Der Umstand, dass er hinter mich trat, von hinten um mich griff und seine Hände über meine legte, machte es mir nicht gerade einfacher, tiefer zu atmen. »Halt sie waagerecht.« Er balancierte die Spiegelscherbe in meinen Händen aus, griff neben uns, nahm die Schale vom Tisch, goss Wasser auf die glänzende Oberfläche, stellte sie wieder beiseite, schrieb wie beim letzten Mal ein verschlungenes Zeichen in die Nässe, zu schnell, als dass ich es erkannt hätte. Wieder legte er die Hände über meine, kippte die Scherbe, damit das Wasser sich über ihre ganze Fläche verteilte. Es bewegte sich nur träge. »Festhalten. « Erneut löste er eine Hand. »Was auch passiert: nicht loslassen! « Ich begriff erst, was er vorhatte, als er den Finger über eine der Kanten zog. Sofort klaffte ein Schnitt in seiner Haut, aus dem Blut perlte. Ein zweites Zeichen ließ Blut und Wasser ineinanderrinnen. Abermals legte er die Hand über meine,
hielt er die Spiegelscherbe wieder mit mir zusammen fest. Sein Atem streifte meinen Hals.
»Schau und erinnere dich!« Dicht neben meinem Ohr. Wie eine Beschwörung …
… der Weihnachtsbaum steht am Ende der Treppe. Wie jedes Jahr. Eine Tanne. Alle meine selbst gebastelten Strohsterne hängen in seinen Zweigen. Zusammen mit Kugeln, die in allen Farben schimmern. Und glitzernden Kristallen. Wie sie letztes Jahr im Skiurlaub an den Scheiben gewachsen sind. Er ist riesig. Vorsichtig berühre ich eine der weiß bestäubten Zweigspitzen. Kalt. Es ist wirklich echter Schnee. Wie Chimo es mir versprochen hat. Ich mache einen Schritt zurück, noch einen. Der Boden ist kühl unter meinen Füßen. Das Nachthemd
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