Blutbraut
ein dunkler Spiegel, der sich ab und an unter einem Windhauch kräuselte. Mr Brumbles lag in meinem Schoß. Um mich herum war mein Leben ausgebreitet. – Mein anderes Leben,
das vor Tante María. Ein Leben, in dem ich fast wie eine kleine Prinzessin umsorgt worden war. Die zukünftige Sanguaíera des möglicherweise mächtigsten Hexers, den die de-Alvaro-Familie jemals hervorgebracht hatte. Und trotzdem war es ein irgendwie ›normales‹ Leben gewesen. Ein Leben mit Schelte und Umarmungen, Lachen und Tränen, aufgeschürften Knien und zerrissenen Kleidern. Lieber Himmel, ich, die ich bis vor Kurzem niemals auch nur einen Rock besessen hatte, hatte Kleider getragen. Und das offenbar ziemlich gerne und regelmäßig.
Mit der Fingerspitze fuhr ich über den Rand des mit rotem Samt überzogenen Schmuckkästchens. Meine Handflächen taten ein wenig weh, aber es war mir egal. Das Innere war mit irgendeinem schimmernden Stoff ausgeschlagen, in den Deckel ein Spiegel eingelassen. Ich hatte einen Ring mit großen, bunten Glassteinen darin gefunden, eine dazupassende Kette und ein Armband. Eine zweite Kette aus Bernstein. Ein flacher, knapp handtellergroßer Stein, in dem die versteinerten Überreste eines Farnblattes eingeschlossen waren. Ein paar Muscheln wie die, in die ich am Strand von Santa Monica getreten war. Ein ordentlich zusammengefaltetes Spitzenband, das einmal rot gewesen sein musste, eine getrocknete Rose … Schätze eines kleinen Mädchens. Nichts Teures und trotzdem unendlich wertvoll … Und er hatte es für mich aufgehoben.
Ich richtete Mr Brumbles zerfleddertes Ohr wieder gerade. Quichotte hatte es ihm abgerissen, als ich einmal versucht hatte, ihm den Bären wegzunehmen, bevor er ihn wie immer auf seine Decke schleppen konnte. Anita hatte es wieder angenäht, aber seitdem saß es irgendwie schief. Quichotte. Mit vollem Namen Don Quichotte. Ich erinnerte mich an sein langes, seidiges Fell zwischen meinen Fingern. Eigentlich viel zu dick für
diese Gegend. Deshalb war es auch regelmäßig gestutzt worden. Wie ein Welpe hatte er dann jedes Mal ausgesehen. Oder ein Wolf. Wenn ich ihn mit Käsecrackern bestach, war er sogar bereit gewesen, für mich ›Sitz‹ zu machen. Nicht, dass er sich ansonsten um irgendwelche Kommandos von mir gekümmert hatte. Er hatte das ganze Fußende meines Bettes für sich beansprucht, wenn Chimo abends bei mir gesessen hatte, meistens zusammen mit Cris, wenn der gerade mal vom Internat zu Haus gewesen war, – auf eine Gute-Nacht-Runde 17-und-4 oder Mensch-ärgere-dich-nicht. Jetzt wusste ich auch, wer mir das Pokern beigebracht hatte: Cris. Wir hatten um Streichhölzer gespielt und ich hatte sie gnadenlos abgezogen. Beide. Oder hatten sie mich gewinnen lassen? Das ›Somewhere over the Rainbow‹, zu dem sich die Primaballerina auf der Spieluhr drehte, war ein weiteres Mal verklungen.
Ich sah auf das aufgeschlagene Fotoalbum. Das Bild musste kurz vor Weihnachten entstanden sein; kurz bevor Tante María mich weggeholt … nein, bevor sich mich entführt hatte, zumindest trug es ein Datum aus dem November: Joaquín de Alvaro mit einer anscheinend wild kreischenden Lucinda Moreira über der Schulter, die mit fliegenden Haaren heftig auf seinen Rücken eintrommelte, soweit man erkennen konnte – und trotz allen Kreischens offenbar grinste wie ein Kobold.
›Chimo‹. Ich musste ihn gerngehabt haben. Nein, nicht ›musste‹. Hatte! Zwei Schüsse in die Brust. Allein der Gedanke schnürte meine Kehle zu. Ich schloss die Augen. Was wäre wohl geschehen, wenn María ihn nicht getroffen hätte? Wo wäre ich jetzt? Wo wären wir jetzt? Er wäre nicht dazu verdammt, Nosferatu zu werden, nur weil ich es nicht ertragen konnte, dass er mein Blut trank.
Ich sah auf, als Schritte erklangen. Fernán kam gerade die Stufen von der oberen Terrasse herab auf mich zu.
»Lucinda, guten Abend. Wie ich sehe, geht es dir besser«, begrüßte er mich mit einem Lächeln. Wenn ihn das Sammelsurium aus Fotoalben, Kinderzeichnungen und all dem anderen um mich herum oder Mr Brumbles auf meinem Schoß wunderte, zeigte er es zumindest nicht. »Joaquín sagte, ich solle mir deine Hände anschauen?« Er ging vor meiner Liege in die Hocke, stellte seine Tasche neben sich auf den Boden, musterte mich prüfend. »Was hast du angestellt?«
Ich hielt ihm meine Hände hin, Handflächen nach oben. Was sollte ich sagen? Joaquín hat mir meine Erinnerungen wiedergegeben und mir dabei eine Spiegelscherbe in die
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