Blutbraut
war so weit weg gewesen, beinah surreal. Da waren so viele andere Dinge gewesen, geschehen … Und jetzt so viele Fragen auf einmal. Wohin sollte ich gehen? Würde er mich irgendetwas von hier mitnehmen lassen? Ein paar Sachen zum Anziehen, die Dinge aus der Kiste, wenigstens Mr Brumbles …? Würde mein letzter Lohn aus dem Forty-two ausreichen, um irgendwo neu anzufangen? Und vor allem: Würde er mich überhaupt gehen lassen? Er hatte es versprochen, aber würde er sein Versprechen auch halten? Doch seit letzter Nacht war da noch eine andere Frage: Wollte ich überhaupt von hier fort? Bei dem Gedanken zuckte ich innerlich zusammen. War ich noch ganz bei Trost? Natürlich wollte ich von hier fort! Und ich würde niemals zurückkommen! Niemals! Ich würde wieder verschwinden. So gründlich, dass selbst er mich nicht mehr aufspüren konnte.
Als ich Blut schmeckte, wurde mir klar, dass ich mir auf die Lippe gebissen hatte. Viel zu fest. Unwillig zerrte ich irgendein Shirt aus dem Schrank und streifte es über. Ich würde von hier fortgehen. Heute. Punkt. Ich würde hinuntergehen, mir etwas zu essen suchen und dann von Joaquín verlangen, dass er mir sagte, wann er mich heute gehen ließ und ob er mich nach Los Angeles oder San Diego oder irgendeine andere größere Stadt in der Nähe bringen lassen würde – oder zumindest nach San Isandro. Oder ob er mich einfach vor die Tür zu setzen gedachte, sodass ich sehen musste, wie ich allein von hier wegkam. Wobei auch das kein Problem sein sollte. Cris würde mich sicherlich in die nächste Stadt fahren. Nach letzter Nacht auf jeden Fall. Warum zum Teufel hatte ich dann einen solchen Kloß im Hals? Ich würde endlich frei sein!
Ich knallte die Schranktür zu, durchquerte mein Zimmer und marschierte auf den Korridor hinaus. Rosa strich um mich herum. Irgendwie … unruhig. Ich bemühte mich, sie zu ignorieren. Abgesehen von ihr schien das Haus wie ausgestorben.
Erst in der Küche traf ich auf ein weiteres lebendes Wesen: Rafael.
Verblüfft blieb ich noch im Durchgang stehen. »Was machst du denn hier?«
Er warf mir einen kurzen Blick über die Schulter zu. »Frühstück. «
Ich verkniff mir ein bissiges › Ach? Tatsächlich? Darauf wäre ich nie im Leben gekommen‹. »Hast du keine eigene Küche?« Misstrauisch beobachtete ich, wie er am Herd hantierte. Der Duft von gebratenem Speck hatte mir schon in der Halle verraten, dass jemand hier war, aber eigentlich hatte ich mit Joaquín gerechnet. Wie jeden Morgen.
»Ich habe heute Nacht hier geschlafen.«
Ich riss meinen Blick von der Pfanne los und sah ihn an. »Warum?« Musste ich das fragen? An seinem Hals klebte ein Pflaster, das viel zu groß war, um nur einen Schnitt zu verbergen, den er sich beim Rasieren zugefügt haben könnte. Ich verbiss mir die Frage danach.
Rafael schnalzte mit der Zunge. »Schau mal nach draußen, tigresa. Es regnet. – Guten Morgen übrigens.«
»Und? – Guten Morgen.«
»Seh ich aus, als hätte ich Schwimmhäute? Oder Kiemen?«
»Das ist doch gar nicht so schlimm.« Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm das glauben sollte.
»Ja, weil es gerade mal ein wenig nachgelassen hat.« Er wendete den Speck ziemlich energisch. »Ich bin ein Kind der Wüste,
tigresa. Wasser hat hier nicht von oben zu kommen. Zumindest nicht in diesen Mengen. Bei dem Wetter schickt man keinen Hund vor die Tür. Und ich hatte keine Lust, die nächsten Tage als Einsiedler zu verbringen.« Er steckte ein paar Scheiben Weißbrot in den Toaster. »Willst du was ab?«
»Wo ist Joaquín?«
»Oben. Schläft noch.« Ich kam zu dem Schluss, dass ich nicht wissen wollte, woher er das wusste. »Er hatte eine harte Nacht. – Was ist jetzt? Willst du was ab, ja oder nein?«
»Gibt es noch etwas außer Speck und Toast?« Skeptisch spähte ich an ihm vorbei in die Pfanne.
Rafael schnaubte. »Oh ja, natürlich!« Die Gabel wie ein Mordwerkzeug in der Hand drehte er sich zu mir um. Hastig machte ich einen Schritt rückwärts. »Mir ist durchaus bewusst, dass mein Speck nicht mit Joaquíns Rührei mithalten kann, aber mir das am frühen Morgen so gnadenlos aufs Brot zu schmieren, ist …« Theatralisch legte er die freie Hand auf die Brust und hob die Gabel. »… herzlos. – Zur Strafe bekommst du nichts davon ab.«
Ich verbiss mir ein Lachen, schüttelte den Kopf. »Schon okay. Ich hatte sowieso gerade beschlossen, mich heute Morgen mit Toast und Marmelade zu begnügen. – Dein Speck wird schwarz.«
Mit einem Fluch
Weitere Kostenlose Bücher