Blutbraut
aufgenäht gesehen, auf den Namensschildchen der Ärzte …
Zuoberst lag ein kurzes, förmliches Schreiben. Mit dem Datum, einen Tag, nachdem ich davongelaufen war. Adressiert an ihn.
Sehr geehrter Mr de Alvaro,
wir müssen Ihnen mitteilen, dass Ms Moreira gestern Abend die Unaufmerksamkeit unseres Personals ausgenutzt hat und aus unserem Haus davongelaufen ist. Unsere Suche nach ihr blieb bisher erfolglos. Die Behörden sind verständigt. Wir bedauern diesen Vorfall zutiefst und werden unser Menschenmöglichstes tun, Ms Moreira wohlbehalten wiederzufinden. Sobald es irgendwelche Neuigkeiten gibt, werden wir Sie selbstredend umgehend informieren.
Hochachtungsvoll …
Meine Hände zitterten, als ich nach der Mappe griff. Er hatte mich gar nicht von seinem Laptop fernhalten wollen. Sondern hiervon. Wie benommen blätterte ich durch die Seiten.
… Patientin gibt nach wie vor an, sich nicht an die Geschehnisse vor ihrer Einlieferung erinnern zu können …, stand da.
Und: … hat erste Angaben, die sie gegenüber d. Pflegepersonal bei ihrer Einlieferung ins Krankenhaus unter leichten Beruhigungsmitteln machte, widerrufen …
Und: … posttraumatischer Schock mit temporärer Amnesie …
… kein erneutes Auftreten von Hypovolämie, keine Anzeichen einer chronischen Anämie …
… keine Anzeichen auf Stoffwechselstörungen im Gehirn. Keine Anzeichen auf tumoröse Veränderungen im Gehirn …
… Psychose durch Stress/Traumata (familiäre Disposition bzgl Geisteskrankheiten?) …
… Verletzungen an Hals und Handgelenken, zurückzuführen auf autoaggressives Verhalten (?) …
Sitzungsprotokoll um Sitzungsprotokoll schlug ich um.
Und immer wieder: … massive Abwehrreaktionen/ Erstickungsanfälle bei dem Versuch, sie am Hals zu berühren …
… Wahnvorstellungen (?)…
… gespaltene/multiple Persönlichkeit (?)…
… sexueller Missbrauch (?) …
… Verdachtsdiagnose: posttraumatische Belastungen mit Persönlichkeitsstörungen/-spaltung und autoaggressivem Verhalten …
Dazwischen unzählige Drogenscreenings – alle negativ; Blut-und Urintests …
Alles ›zur Kenntnisnahme‹. Und auf allem stand mein Namen – meine Krankenakte aus der Klinik.
Und immer wieder:
Sehr geehrter Mr de Alvaro, leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass es immer noch keine Besserung bzgl. Ms Moreiras Zustand gibt …
Mit einem Schlag war alles wieder da: die Hilflosigkeit. Die Wut. Die Angst. Und ich hatte ihm geglaubt. Hatte ihm sogar vertraut. Hatte sogar ein Stück weit begonnen … Oh mein Gott.
»Du hast mich in die Klinik stecken lassen. Dafür gesorgt, dass sie mich unter Drogen setzen, mich einsperren. Das war alles dein Werk.« Ich bekam keine Luft. Er hatte mich belogen. Getäuscht. »Du hast es gewusst. Du hast es gewusst und mir nichts gesagt.« Meine Stimme wurde mit jedem Wort schriller. Er spielte noch immer seine Spielchen mit mir. Die ganze Zeit. »Ich war eingesperrt! Ich hatte Angst!« Immer schriller. »Ich war hilflos.« Meine Stimme kippte, brach. Ich schleuderte ihm die Mappe mit sämtlichen Papieren entgegen. Die Blätter flatterten um ihn. »Du elendes Arschloch.«
»Luz …« Er streckte die Hand nach mir aus und in meinem Hirn machte es ›klick‹. Ich heulte auf, schlug zu und stürzte aus der Tür, den Korridor hinunter, in mein Zimmer, knallte
die Tür zu, sank auf die Knie, die Schulter gegen das Holz gedrückt, schlang die Arme um mich, wiegte mich hektisch vor und zurück; vor und zurück. Wie damals in der Klinik. Wie damals in der Klinik. Er hatte es gewusst. Er hatte alles gewusst. Er hatte gewusst, was sie mit mir gemacht hatten. Er hatte es gewusst. Vor und zurück. Wie damals in der Klinik. Wie damals in der …
»Luz?«
Ich erstarrte mitten in der Bewegung.
»Luz, bitte, lass es mich erklären.«
Ich rührte mich nicht.
»Luz?« Die Klinke senkte sich über mir. Ich wimmerte. »Luz, mach auf. Ich werde dir alles erzählen; warum sie die Berichte zu mir geschickt haben, alles. Aber nicht durch die Tür. Mach auf und lass mich rein. Bitte.«
Ich starrte blind ins Leere. Minute um Minute. Mein Gesicht war nass. Rotz hing unter meiner Nase. Meine Hand brannte. Vor der Tür war es still. Aber er war immer noch da. Ich wusste es. Rosa strich um mich herum. Das ›Geh weg‹ lag mir auf der Zunge. Stattdessen drückte ich mich vom Boden hoch. Wischte mir mit dem Shirt das Gesicht ab. Öffnete die Tür. Ich wusste selbst nicht, warum. Er stand vor meiner Tür, noch
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