Blutbraut
vor. Sah sie an. Einen nach dem anderen. Mir war schwindlig.
Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich den Fehler in dem fand, was ich sah: zwischen und hinter ihnen Jorge mit vielleicht
zehn oder mehr von Joaquíns Leuten. Alle bewaffnet wie zu einem Bandenkrieg. Irgendwer musste Rafael die Fesseln abgenommen haben. Also waren das, was ich gehört hatte, tatsächlich Schüsse gewesen. Es dauerte noch länger, bis mir ein weiterer Punkt bewusst wurde: Sie waren keine Vampire mehr. Das bedeutete, die Sonne war aufgegangen. Jetzt verstand ich auch diese seltsame Anspannung: Sie hatten Angst. Vor Joaquín. Denn er war noch immer, was er in der Nacht gewesen war.
Joaquín war hinter mir ebenfalls aufgestanden. Ich streckte die Arme nach hinten, um ihn genau da zu halten. Und um etwas zu haben, an dem ich mich festhalten konnte, nachdem mein Kreislauf verrücktspielte. Gleichzeitig dankte ich dem Himmel dafür, dass wir in dem Teil der Kirchenruine waren, in den die Sonne noch nicht hereinschien.
Keiner sprach. Selbst der Boden rührte sich nicht mehr. Das Schweigen hatte etwas Gefährliches.
»Ich habe mein Einverständnis widerrufen und ich widerrufe es noch einmal vor euch als Zeugen.« Joaquíns Stimme klang eiskalt und hart in die Stille hinein. »Meine Sanguaíera und ich werden jetzt gehen.« Niemand sagte etwas. Zwei der Hexer tauschten Blicke. Einer bedachte mich mit einem Lächeln.
Tomás ballte die Fäuste. »Die Sache ist noch nicht geklärt.«
Wie zur Antwort erklang ein mehrstimmiges Ratschen, als einige von Joaquíns Leuten ihre Waffen durchluden. Manche hoben sie auch einfach nur ein klein wenig weiter. Einer der Hexer sah sich unruhig nach ihnen um. Ein anderer räusperte sich.
»Nein, das ist sie nicht.« Nichts an Joaquíns Ton hatte sich geändert. »Auch wenn dank dir mein Großvater inzwischen vermutlich
sämtliche Spuren verwischen konnte.« Ich hatte das Gefühl, dass er einen nach dem anderen über meinen Kopf hinweg ansah. Tomás hatte abfällig den Mund verzogen. »Wir treffen uns heute Abend, nach Sonnenuntergang. Wo, erfahrt ihr noch.« Der Hauch einer Pause. »Und jetzt geht uns aus dem Weg!« Seine Hand strich über meinen Rücken. »¡Vamos, Lucinda!«
Ich machte einen Schritt und plötzlich waren meine Beine fort. Blitzschnell griff Joaquín zu, hielt mich fest, nahm mich auf die Arme. Eine Sekunde lang blinzelte ich gegen die Schlieren, die mit einem Mal um mich herumwaberten, hielt mich irgendwie zittrig an seinem Nacken fest.
Bestürztes Murmeln. Dazwischen ein Zischen. »Monster.« Tomás.
Diesmal war Joaquíns Knurren für alle zu hören.
Etwas wie ein Raunen und Knistern war plötzlich in der Luft, Magie … und mehr. Wie durch Nebel nahm ich wahr, dass sie ihm wortlos Platz machten, als er auf die Tür der Kirche zuging. Seine Leute sich unmissverständlich zwischen uns und Tomás schoben.
Doch ich sah Joaquín verwirrt an, als seine Schritte ein paar Meter vor der Tür seltsam … zögernd wurden, er schließlich ganz stehen blieb. Ich spürte, wie er tief Atem holte, wie jemand, der sich darauf einstellte, dass das, was er gleich tun würde … wehtat, und begriff,warum, als ich seinem Blick hinaus ins Freie folgte: die Sonne.
Tomás trat an uns vorbei, blickte wie Joaquín in die allmählich immer mehr aufziehende Helligkeit jenseits der Kirchenmauern, die Brauen höhnisch hochgezogen. Ein bösartiges Grinsen erschien auf seinem Gesicht. »Brauchen wir einen weiteren Beweis dafür, wie sehr Joaquín doch schon Nosferatu
ist? Moreira-Blutbraut hin oder her«, höhnte er in Richtung der Männer hinter uns
Joaquín sah zu ihm hin, die Kiefer so fest zusammengebissen, dass es an seiner Wange zuckte.
Auf einmal war mir nicht mehr nur schwindlig, sondern auch übel. Keiner von uns hatte daran gedacht. Weil Joaquín sich dank seiner ›Nachtkristalle‹ bisher mit einer Selbstverständlichkeit in der Sonne bewegt hatte … Meine Hand zuckte zu der Tasche meines geborgten Kleides. Da war das Kreuz und daneben … Möglichst unauffällig zog ich den Kristall heraus. Presste ihn, unter meiner Handfläche verborgen, flach gegen Joaquíns Brust, lächelte Tomás giftig-süß an. Dann schaute ich zu Joaquín auf. Er starrte mich an. Natürlich war ihm klar, was da zwischen meiner Hand und seiner bloßen Brust war. In geheuchelter Unschuld hob ich die Brauen. Einen Sekundenbruchteil war da ein Zucken in seinem Mundwinkel, bevor er Tomás brüsk zunickte und die Kirche verließ.
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