Bluteis: Thriller (German Edition)
polnische, vier litauische, zwei finnische Staatsangehörige und je einer aus Mexiko, Japan und Argentinien. Die Toten befanden sich vor dem Unglück fast ausschließlich auf einer der Tribünen. Die meisten Gäste der VIP-Zelte konnten gerettet werden. Das erklärt, warum es keine arabischen Opfer gibt, denn die Araber befanden sich nahezu ausnahmslos in den Zelten, und der arabische Teilnehmer am Skijöring konnte sich wie durch ein Wunder auf eine Eisscholle retten. Ach ja, und alle Pferde sind tot.«
»Verschonen Sie uns mit Pferden, wenn’s geht. Und würden Sie bitte nie wieder von einem Unglück sprechen?«, ermahnte Maler seinen Mitarbeiter. »Das war kein Unglück, sondern eine von Menschenhand mit Absicht herbeigeführte Katastrophe. Ein fünfhundertvierunddreißigfacher Mord. Bislang fünfhundertvierunddreißigfach, wenn ich Sie richtig verstehe, da die Bergung sämtlicher Toter nicht abgeschlossen ist.«
Der junge Beamte nickte nur ergeben.
»Was uns zur nächsten Frage führt, meine Damen und Herren. Wer war das? Wer sind die Mörder?«
Schweigen erfüllte den Raum. Die Ratlosigkeit stand den Mitgliedern des Sicherheitsausschusses der Schweizer Bundesregierung in die Gesichter geschrieben. Alle schauten auf den Chef des Nachrichtendienstes des Bundes, den jungen Stefan Habersack. Der erst gut vierzigjährige Spitzenbeamte hatte in seiner kurzen Amtszeit bereits einige Skandale durchzustehen gehabt. Die meisten hatte er von seinen Vorgängern geerbt, denen es gefallen hatte, über Schweizer und Ausländer Dossiers anzulegen, um die sie die Staatssicherheit der untergegangenen DDR beneidet hätte. Von ihm wurde erwartet, dass er alles wusste, was auf Schweizer Boden geschah. Auch unter dem Eis eines Sees.
»Es tut mir sehr leid, verehrte Damen und Herren«, begann der oberste Spion der Eidgenossenschaft zögerlich, »aber wir haben nichts.«
»Wie meinen Sie, nichts? «, hakte der Departments-Vorsteher Maler nach. »Sie überwachen den Internet- und den Telefonverkehr dieses Landes. Ihre Kameras filmen jedes Autokennzeichen, das über unsere Grenzen fährt. Jede Verkehrsüberwachung meldet Ihren Computern, wo sich welches Kennzeichen hinbewegt. Und Sie wagen zu sagen, sie hätten nichts? «
»Soll ich etwas erfinden, Herr Maler?«, entgegnete Habersack genervt. »Ich habe nicht gesagt, dass da nichts ist. Wir werten seit gestern Mittag alle erdenklichen Quellen aus, auch menschliche, nicht nur die digitalen. Wir haben bislang noch nichts gefunden. Das ist nun einmal so.«
Jakob Maler stieß laut Luft durch die Nase aus. Dann sah er nach links, wo vier Plätze neben dem Geheimdienstchef der Direktor des Bundesamts für Polizei saß. Dieser war im Gegensatz zu Habersack nicht sein direkter Untergebener. Das »fedpol« gehörte nach der Reform der schweizerischen Sicherheitsbehörden zum Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement. Dessen Vorsteherin saß neben Maler.
»Sie gestatten, Frau Kollegin«, sagte Maler zu ihr und fuhr dann, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: »Was hat die Polizei, Herr Baffour?«
»Nun«, sagte der Angesprochene mit einem deutlichen französischen Akzent, »die Kantonspolizei Graubünden sucht fieberhaft die ganze Gegend ab, unterstützt von Miliz und Armee. Dreihundert Leute nehmen die Personalien von jedem Menschen auf, der sich im Engadin aufhält. Allein … Ich muss leider sagen: Wir haben sehr wenig.«
»Was ist das wenige?«
»Nun, Herr Bundesrat, ehrlich gesagt, wir haben: nichts. Bisher.« Henri Baffour starrte ebenfalls auf die Tischplatte vor ihm.
»Ich halte fest: Es gelingt Menschen, den St. Moritzersee zu verminen – unter dem Eis, muss man dazu sagen –, und diese Menschen verschwinden dann spurlos, und weder unsere Polizei noch unser Geheimdienst bekommen irgendetwas davon mit. Ist das richtig?« Betretenes Schweigen herrschte rings um den Konferenztisch. »Wir wissen also nicht, ob wir es mit einem Täter zu tun haben, mit zehn Tätern oder hundert. Woher sie kommen, wohin sie gegangen sind und was sie bewegt. Nichts, nichts, nichts! «
Bundesrat Maler, der vor seiner Berufung in die Schweizer Regierung viele Funktionärsposten im schweizerischen Landwirtschaftswesen innegehabt hatte, schnaubte wie ein Appenzeller Zuchtbulle.
»Es herrscht ein solcher Betrieb auf diesem See, da merkt kein Mensch, wenn nachts Taucher einsteigen und Bomben unter dem Eis verlegen«, versuchte der Polizeichef eine Erklärung zu liefern. »Es gibt Fischlöcher an
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