Blutengel: Thriller
Oberkörper mit Paketband an die Stuhllehne und legte den lilafarbenen Umhang über seine Schulter.
Erst jetzt löste er die Fesseln und fixierte die Unterarme mit dem Klebeband an den Lehnen. Der Priester unternahm einen kraftlosen Versuch, ihn abzuschütteln.
»Das Gute tritt in die Welt, und das Böse tritt in die Welt. Und keine Entschuldigung kann es aufhalten.«
Als er die ersten Buchstaben in seinen Oberschenkel schrieb, röchelte der Priester. Sein Kopf rutschte zur Seite.
»Du musst noch bei mir bleiben«, sagte er und schlug dem Priester leicht auf die Wange. Der kam wieder zu Bewusstsein und sah ihn mit aufgerissenen Augen an.
Er steckte ihm eine Metallklammer in den Mund, die das Gebiss auseinanderdrückte.
»Es ist so weit«, sagte er und zeigte ihm den Stecker. »Es tut dir alles furchtbar leid, ich weiß.«
Der Priester sah ihn ungläubig an. Dann schob er den Stecker in die Dose.
16.
Mangold schaltete in den dritten Gang und fuhr die Rothenbaumchaussee hinunter. Vor dem NDR-Gebäude stand eine Gruppe von Musikern, die zu ihren punkigen Frisuren schwarze Fräcke trugen und neben sich ihre Instrumentenkoffer gestapelt hatten. Livemusik im Radio, das war wie aus einer fernen Epoche.
Der morgendliche Berufsverkehr schob sich in Richtung Innenstadt. Die angeblichen Anrufe des toten Serienkillers Travenhorst würde er nicht in der Runde diskutieren. Auch Psychologen waren nicht vor Halluzinationen gefeit. Andererseits, Kaja Winterstein war eine gestandene Frau. Systematisch, mit Ideen und genügend Fantasie. Vor allem aber war sie eine Wissenschaftlerin, die sich nicht hinter ihren Büchern versteckte.
Für sein etwas anarchisches Ermittlerteam war sie als Bindeglied und wissenschaftliche Bodenverankerung absolut unentbehrlich. Mal ganz davon abgesehen, dass sich die anderen Polizei-Haudegen gegenüber dieser attraktiven Frau beweisen wollten. Aber es gab eben auch ausgesprochene Machos, denen es nicht um ihr Testosteron, sondern um die Ablehnung neuer Methoden und die Heiligsprechung herkömmlicher Ermittlungsarbeit ging. Nur die geringste Andeutung über die Nachrichten aus dem Jenseits – und sie hätte schlagartig jeden Respekt verloren. Nein, das konnte er nun wirklich nicht brauchen.
Hatte Travenhorst sein Ziel doch noch erreicht und sie tiefer in seine Gedankenwelt gezogen, als sie dachte? Kaja hatte wenig über die Stunden berichtet, in denen sie in seiner Gewalt gewesen war. Er wusste nicht einmal, ob sie sich professionellen Rat bei einem Kollegen geholt hatte.
Vor ihm bremste ein Taxi scharf ab, und Mangold hatte Mühe, seinen Wagen zur Seite zu ziehen.
Als er überholte, sah der Fahrer mit gelangweilter Miene herüber.
Was, wenn Kaja sich diese Anrufe nicht eingebildet hatte? Die SMS-Nachrichten hatte er schließlich gelesen. Wer steckte dahinter? Wer versuchte, die Abtreibung zu verhindern? Der Einzige, der ihm einfiel, war ihr hochbegabter Autist Sienhaupt. Wochenlang hatte der mit dem Serienkiller gerungen, hatte Schreikrämpfe bekommen und war nervlich am Ende gewesen. Niemand im Präsidium hatte bis heute genau nachvollziehen können, was sich zwischen den beiden abgespielt hatte.
Spielte der jetzt den Stellvertreter des Killers und versuchte, dessen Kind zu schützen? Machte er sich einen Witz? Oder fühlte er sich in seiner genialischen Gedankenwelt, in die Normalsterbliche keinen Zutritt fanden, einfach nur einsam? Und hoffte er nun, über das Kind des toten Savants eine Art Kontakt zur Außenwelt schaffen zu können?
Er musste das im Auge behalten. Aber ihre Ermittlungen durften nicht darunter leiden. Wirch hatte ihm mehr als einmal deutlich gemacht, dass er mit seinem Engagement für die länderübergreifend agierende Sonderkommission ein großes Risiko einging. Wirch verlangte Erfolge. Und mehr Ermittlungsdruck auf den Täter. Auch die Fragen in den Zeitungen wurden drängender. Es war längst keine lokale Geschichte mehr, sondern große Medien interessierten sich inzwischen für den »Shakespeare-Killer«.
Die grausamen Tatabläufe wurden dabei gern ausgeblendet oder mit schaudernder Bewunderung lediglich angedeutet. Die Unruhe wuchs.
Und was bedeutete diese Nachricht: »Ein Opfer ist ein Opfer ist ein Opfer«? Zweifellos eine Anspielung auf ein berühmtes literarisches Zitat von einer gewissen Gertrude Stein, die in den zwanziger Jahren Schriftsteller und Maler in ihren Salon lud. Aber was sagte es über ihren Mörder aus? War dies der Weg, auf dem Sienhaupt mit
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