Blutengel: Thriller
wie der Sohn des Priesters heute heißt?«
»Das ist das Problem«, sagte Kaja Winterstein. »Sie weiß seinen jetzigen Namen nicht, oder sie will ihn nicht herausrücken.«
»Es könnte also jeder sein.«
»Er wurde als Jugendlicher ins Ausland geschickt. Gut möglich, dass damals sogar ein paar wichtige Kirchenleute mitgemischt haben.«
»Um ihren Priester zu schützen?«
»Ist gemacht worden, wenn sich die Vaterschaft des im Zölibat lebenden Vaters partout nicht mehr verheimlichen ließ. Selbst manche Priester sind daran zerbrochen, aber über Selbstmordraten unter Geistlichen gibt es von den Kirchen keine Auskünfte.«
»Kennen wir das Land, in das der Sohn abgeschoben wurde?«
»Argentinien … meine Güte, was ist denn das?«
Kaja deutete auf die teilweise leeren und auf einen Haufen geworfenen Verpackungen und den Stapel mit Kartons.
»Wie sieht’s denn aus?«, sagte Mangold. »Ich tippe auf Kommandozentrale, aber vielleicht macht unser Freund auch eine neue Börse auf.«
In diesem Augenblick kroch Sienhaupt unter seinen Schreibtisch und zwischen den Kabeln hindurch und tauchte dann in einer Haltung auf, die Mangold an ein Erdmännchen erinnerte. Nur, dass Erdmännchen mit schief auf der Nase sitzender Goldrandbrille in der Natur wohl eher nicht vorkamen.
Stolz strahlte er Kaja an, die überrascht die Augenbrauen in die Höhe zog. Dann machte er drei Schritte und klatschte Mangold einen Computerausdruck auf den Schreibtisch.
»Angelus sanguinis « stand auf dem Zettel.
»Blutengel?«, fragte Kaja Winterstein.
In diesem Augenblick ertönte aus Mangolds Computerlautsprecher das »Salve Regina«, ein gregorianischer Mönchsgesang.
»Er spielt wieder«, sagte Mangold an Kaja gewandt.
Sienhaupt drehte sich auf dem Absatz um, stiefelte zurück, bückte sich und kroch unter seinen Schreibtisch.
Mangold griff zu dem anderen Blatt, warf einen Blick darauf und pfiff durch die Zähne.
*
Engel, so weit das Auge reichte. Engel aus Stein, aus angelaufenem Metall, Engel mit und ohne Flügel. Engel in Trauer gebeugt oder sich zum Himmel aufschwingend.
Marc Weitz lenkte den Wagen an einer Kapelle vorbei in eine stillere Seitenstraße des Ohlsdorfer Friedhofs.
Den modernen Grabsteinen nach war das Gräberfeld erst vor wenigen Jahren angelegt worden. Ein Grab war frisch ausgehoben und abgedeckt mit grünem Kunstrasen, auf dem Kränze und verwelkte Blumen lagen. Der Regen der letzten Nacht hatte die Trauerflore in Mitleidenschaft gezogen.
Sollte sich Binkel auf diesem größten Parkfriedhof der Welt verbergen, er würde sicher kein Versteck in der Nähe der asphaltierten Straßen suchen, die nur im Schritttempo befahren werden durften.
Wo sollte er mit der Suche beginnen?
Auf dem riesigen Gelände gab es keinerlei Überwachungskameras, und selbst wenn, Binkel hätte hinter Büschen und Grabsteinen genug Möglichkeiten, sich in Deckung zu bringen. Und er konnte sich einfach unter eine der zahlreichen Trauergesellschaften mischen, die hier jeden Tag von den Kapellen zu den Grabstellen gingen. 1,7 Millionen Menschen sind auf diesem Friedhof beerdigt worden, hatte Weitz erst vor ein paar Tagen in der Zeitung gelesen.
Er fuhr an dem Teil des Friedhofs vorbei, der den Gefallenen des Zweiten Weltkrieges und den im Bombenhagel Umgekommenen vorbehalten war. Am Rand standen jede Menge Engel, teilweise restauriert, teilweise verfallen. Ideale Vorlagen für Binkel, der daraus mit ihrer Hilfe seine perversen Bilder geschaffen hatte.
Ein mit grüner Latzhose bekleideter Gärtner schob eine Schubkarre mit Kränzen über den Gehweg. Aufgeregt huschte ein Eichhörnchen mit kräftigen Sprüngen einen Baumstamm hinauf.
Weitz parkte den Wagen und rief Tannen an.
»Ich brauche mal eine Hundertschaft«, sagte er. »Ich habe da eine Ahnung …«
»Eine Ahnung? Was soll das werden? Beschäftigungstherapie für die Jungs von der Polizeischule?«
»So kommen die auch mal an die frische Luft«, sagte Weitz. »Also, was ist?«
»Auf eine vage Vermutung hin? Ausgeschlossen.«
»Wie wär’s mit ein paar Spürhunden?«
»Das schon eher. Wo spielen denn deine Ahnungen?«
»Friedhof Ohlsdorf. Hier stehen überall diese alten Engel herum, die Binkel abgemalt und mit seinen perversen Fantasien verändert hat.«
»Engel auf dem Friedhof, großartig, Weitz. An dir ist ein Polizist verloren gegangen.«
»Es sind die gleichen Engel, die auf den Bildern auftauchen. Und so ein riesiger Friedhof ist ein ideales Versteck.«
»Und da
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