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Blutengel: Thriller

Blutengel: Thriller

Titel: Blutengel: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Koglin
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viele Opfer vertreten Sie?«, fragte Tannen.
    »Ungefähr 300, aber vertreten würde ich das nicht nennen. Ich bin Ansprechpartner für die Presse, die Kirchen und die Justiz.«
    »Wie viele Verfahren sind anhängig?«, fragte Hensen.
    »Die meisten Fälle sind verjährt. Aber ich vermittle eben auch Therapeuten, verschicke einen Rundbrief, in dem Tipps zu Entschädigungsleistungen gegeben werden. Und dazu jeweils das anonymisierte Porträt eines Opfers.«
    »Und Sie selbst …?«
    »O ja, in einem evangelischen Internat. Das fing mit Pfadfinderspielen an, und dann wurden wir zu einer Art verschworener Wohngemeinschaft mit dem zuständigen Pädagogen. Schließlich haben wir alle in nebeneinander gestellten Betten geschlafen.«
    »Also kein Priester?«, fragte Tannen unvermittelt.
    »In dem Fall nicht. Aber die Kirche war nun mal über Jahrzehnte beim System der so genannten Fürsorge dabei.«
    »Ich verstehe nicht, warum so lange geschwiegen wurde«, sagte Hensen.
    Carlsen schüttelte energisch den Kopf.
    »Wurde es nicht. Es gab immer Versuche, mit den Direktoren oder anderen Lehrern zu sprechen. Da wurde beschwichtigt, gedroht, dass man sich über die Konsequenzen klar sein müsse, wenn man damit an die Öffentlichkeit gehe und sein Leben lang als Schwuler geoutet werde. In wenigen Fällen wurden die Verantwortlichen an eine andere Schule oder ein anderes Heim versetzt, und damit war die Sache erledigt.«
    »Wir suchen nach einem besonders extremen Fall von Misshandlung.«
    »Was brauchen Sie? Darmrisse, Folterspiele, SM-Praktiken, Bearbeitung mit Lötkolben oder Zigarettenkippen? Wir haben da einiges im Angebot. Besonders beliebt war alles, was mit Entwürdigung zu tun hatte.«
    Tannen räusperte sich.
    »Können Sie sich vorstellen, dass einer Ihrer … Ihrer …«
    »Opfer«, sagte Carlsen.
    »… dass einer losmarschiert und sich rächt?«
    Carlsen sagte einige Sekunden nichts, sondern starrte nachdenklich auf eine Modell-Molkerei.
    »Verstehen würde ich es, aber vorstellen? Nein. Die meisten sind gebrochene Menschen. Die zittern heute noch, wenn sie ihren Peinigern begegnen oder sie im Fernsehen sehen.«
    »Also niemand hat Rache oder was Ähnliches angekündigt? Vielleicht in einem Leserbrief?«
    »Nein, wirklich nicht. Die meisten wären schon körperlich dazu nicht in der Lage.«
    »Ich weiß, das ist sensibel, aber haben Sie eine Liste mit Namen?«
    »Nein, das ist gar nicht sensibel. Ich kann Ihnen die Liste derjenigen geben, die mit ihrer Nennung bei Ermittlungen oder Prozessen einverstanden sind. Für alle anderen, die sich bei mir melden, gibt es keine Liste. Da schreibe ich nicht mal die Namen auf. Da können Sie auch eine Hausdurchsuchung veranstalten. Ich gebe Ihnen gern das Passwort für meinen Computer.«
    Ramon Carlsen ging zum Regal und zog einen stark abgenutzten Aktenordner heraus.
    »Hier müsste es eigentlich drin sein«, sagte er und öffnete den Deckel.
    »Nach unseren Akten hat Tanja Binkel Sie beraten.«
    »Sie war unser Rechtsbeistand. Über viele Jahre, bis …«
    »Bis sie getötet wurde?«
    »O nein, sie hat bereits vorher ihre Tätigkeit für uns niedergelegt.«
    »Und warum?«
    »Ich weiß es nicht. Sie hat gesagt, es werde zu viel für sie. Sie müsse sich endlich um ihren Bruder kümmern.«
    »Psychische Belastung.«
    »Kann schon sein«, sagte Ramon Carlsen.
    Er blätterte gerade eine Seite um, als aus einer Klarsichthülle Fotos auf den Boden rutschten. Tannen bückte sich und sammelte sie zusammen.
    »Danke«, sagt Ramon Carlsen.
    Tannen schob die Fotos eines nach dem anderen zurück in die Klarsichthülle. Die meisten waren Schwarz-Weiß-Aufnahmen, einige in verblichenen Farben mit einem Gelbstich.
    Tannen sah eher beiläufig auf den Abzug. Er hatte das Bild schon einmal gesehen, und auch den Mann erkannte er sofort.
    »Das ist meine zweite Erfahrung mit der Fürsorge. Jahre nach dieser Pfadfindertruppe«, sagte Ramon Carlsen. Er tippte auf das Bild. »Den haben wir damals den Ritzer genannt.«
    »Den Ritzer?«
    »Wir haben ihn gefürchtet und geliebt. Und dann haben wir ihn geliebt, um ihn weniger zu fürchten. Das geht zusammen, glauben Sie mir. Nur, dass Sie das Lieben und das Fürchten nicht mehr auseinanderhalten können.«
    Tannen zog sein iPhone aus der Tasche und rief die Lupenfunktion auf.
    Hensen hörte, wie er geräuschvoll ausatmete.
    Er zeigte wieder auf das Foto und reichte Hensen das Handy: »Kein Zweifel, die beiden Kinder da, das sind Binkel und Nicolai, und

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