Blutengel: Thriller
über die Netzhaut.
Wie lange hielten die Röhren durch? Sie mussten doch irgendwann durchbrennen. Oder platzen.
Carolus versuchte sich zu bewegen, doch Arme, Beine und auch der Hals waren stramm an die Bank geschnürt.
»Ja, wir bringen Licht in das Dunkel«, hatte der Mann gesagt. Licht in das Dunkel! Und dann hatte er gefragt, ob er, Carolus, sich entschuldigen wolle.
»Entschuldigen? Ja, wofür denn entschuldigen?«
»Ihr entschuldigt euch doch immer«, hatte er geantwortet und mit quäkender Stimme »Es tut mir ja so leid, ich bitte um Entschuldigung« hinzugefügt.
Und dann hatte er vom Inferno des Höllenfeuers gefaselt.
Carolus schätzte, dass er bereits drei Stunden auf dieser Sonnenbank gefesselt war. Am Anfang hatte er das Ticken einer Zeitschaltuhr gehört. Doch die war einfach stehen geblieben, ohne dass die Leuchtstoffröhren erloschen wären.
Eigentlich musste es doch Sicherungen an diesen Bräunungsgeräten geben. Man konnte doch niemanden mit den Röhren einer Sonnenbank umbringen! Das war unmöglich. Am Ende war der Mann gar nicht der Serienkiller. Welchen Höllenhund hatte er da aus seinem Schlaf geweckt? Allen anderen Opfern hatte er mit einem Füllfederhalter einen Satz in den Oberschenkel geritzt. Oder kam das noch?
Aber wenn er nicht der Täter war, was wollte er dann? Was hatte er ihm getan?
Carolus versuchte, den Kopf etwas zur Seite zu drehen, doch die Fesselung schnürte seinen Kehlkopf ein.
Dann hörte er es, und es übertönte wie ein Donnergrollen das Brummen der Leuchtstoffröhren. Die Tür! Er öffnete die Tür.
»Gott sei Dank«, sagte er. »Gott sei Dank.«
Der Mann antwortete nicht. Carolus spürte, wie er ihm etwas Kühlendes auf den Oberschenkel legte. Ein wohltuendes Frösteln durchlief ihn.
»Danke«, sagte Clemens Carolus. »Danke.«
27.
Hensen war überrascht. Der Mann, der ihnen die Tür öffnete, war wesentlich jünger, als er gedacht hatte.
»Herr Carlsen, es ist wirklich sehr freundlich, dass Sie bereit sind, mit uns zu sprechen«, sagte Hensen und stellte Tannen als seinen Kollegen vor. Der quittierte das mit einem nervösen Augenzucken.
»Das ist meine Aufgabe«, sagte Ramon Carlsen.
»Bitte?«
»Mit Menschen zu sprechen. Entschuldigen Sie«, sagte Carlsen und deutete auf die Schienen einer elektrischen Eisenbahn, die über den Flur in verschiedene Zimmer führten. »Hat mir mein Therapeut empfohlen, albern, was?«
Carlsen lachte und führte Hensen und Tannen in das Wohnzimmer.
»Sehen Sie einfach nicht hin.«
Hier im Wohnzimmer mit Schrankwand, einem Sechziger-Jahre-Schreibtisch und vollgestellten Hängeregalen hatte er auf dem Boden eine Art Bahnhof mit sich daran anschließendem Dorf aufgebaut. Die Fallerhäuschen, kleinen Figuren, Bäume und Seen waren lose auf einen Kunstrasen gestellt. Liebevoll war das nicht gerade, dachte Hensen, der an die gigantische Modelleisenbahnanlage in der Hamburger Speicherstadt dachte.
Es sah so aus, als hätte Carlsen einzelne Modellbahnteile wild aus dem Internet bestellt und wahllos zusammengestellt.
»Eine erste Planung … ich überlege noch an der Grundstruktur. Ist aber tatsächlich ein nettes Hobby, kann ich empfehlen«, sagte er. »Eine Mischung aus Stadtplanung und Landschaftsgärtnerei.«
Auf seinem Schreibtisch lagen auf Zeitungspapier verschiedene kleine Farbtöpfe und feine Pinsel. Tannen ging in die Knie und betrachtete eine frisch angemalte Menschengruppe.
»Das bringt am meisten Spaß«, sagte Carlsen. »Menschen zu gestalten, sie anzuziehen, mit einem Gesichtsausdruck zu versehen, ihnen eine Geschichte zu geben. Aber Sie sind sicher nicht gekommen, um einem Modellbauer bei der Arbeit zuzusehen.«
Er bat die beiden Männer, auf der Couch Platz zu nehmen. Während Carlsen in der Küche einen Kaffee zubereitete, dachte Hensen an das, was ihm von dem Polizisten am Empfang bestätigt worden war: Der inzwischen ermordete Zeuge Innach hatte demnach völlig verwirrt das Präsidium verlassen und sich gehetzt umgesehen. Hatte er gespürt, dass der Täter ihn verfolgte?
Carlsen stellte drei Becher mit Kaffee, Teelöffeln, Sahne und Zucker auf den Tisch und setzte sich.
»Herr Carlsen, Sie sind so etwas wie der Sprecher einiger Opfervereinigungen.«
»Opfer hört sich immer einfach an. Opfer von systematischem Missbrauch.«
»Es geht nicht nur um katholische und evangelische Heime, Schulen, Internate und so weiter?«
»Missbrauch gab es auch an staatlichen Einrichtungen«, sagte Carlsen.
»Wie
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