Bluternte: Thriller
doch es war offenkundig, dass sie nicht mit einer Ablehnung rechnete.
Als Harry den Flur hinunterging, bereit, sich zu entschuldigen und zu gehen, tauchten die Jungen aus einem der Zimmer auf.
Der Neuankömmling trug Jeans und eine cremeweiße Leinenbluse. Es gelang ihr, gleichzeitig leger und teuer auszusehen. Ehe Alice antworten konnte, erblickte sie Harry, und ihr Mund verzog sich belustigt. »Hi«, sagte sie, und Harry fühlte, wie sein Gesicht rot anlief.
»Jenny, das ist Harry. Unser neuer Vikar«, erklärte Alice. »Joe hat ihn bereits über die Bekleidungsvorschriften für Geistliche in dieser Gegend aufgeklärt. Harry, das ist Jenny Pickup. Sie und ihr Mann haben etwas außerhalb eine Farm.«
»Reverend Laycock?« Jenny streckte die Hand aus. »Wie wunderbar. Wir hatten Sie schon aufgegeben. Dad wartet schon seit mindestens einer Stunde auf Sie.«
Harry ergriff ihre Hand. »Dad?«
»Sinclair Renshaw«, antwortete sie, ließ seine Hand los und schob die ihren in die Hosentaschen. »Ihr Kirchenvorsteher. Wir wussten, dass Sie heute Vormittag hier ankommen. Wir dachten, Sie würden bei uns vorbeischauen.«
Wieder sah Harry auf die Uhr. Hatte er eine feste Absprache mit seinem Kirchenvorsteher gehabt? Seiner Meinung nach nicht. Er hatte lediglich eine Nachricht hinterlassen, dass er am frühen Vormittag eintreffen und sich die Kirche anschauen würde.
»Also, wenn man vom Teufel spricht«, fuhr Jenny fort und schaute durch die offene Haustür hinaus. »Hier ist er, Dad. Ich habe ihn gefunden.«
Harry, selbst über eins dreiundachtzig groß, musste hochschauen, um dem anderen Mann in die Augen zu sehen, als dieser über die Schwelle trat. Sinclair Renshaw war Ende sechzig. Sein dichtes weißes Haar fiel ihm in die Stirn und ließ von den dunklen Augenbrauen fast nichts mehr erkennen. Er hatte braune Augen, trug eine elegante Brille und war gekleidet wie ein englischer Gentleman aus einem Lifestyle-Magazin, in verschiedenen Grün-, Braun- und Beigetönen. Er nickte kurz Harry zu und wandte sich dann an Alice, die neben dem hochgewachsenen Duo aus Vater und Tochter winzig wirkte.
»Ich fürchte, es hat einen ernsten Fall von Vandalismus an der Kirche gegeben«, sagte er. Seine Worte waren an Alice gerichtet, doch er warf Harry einen raschen Blick zu. »Eins von den älteren Fenstern ist zerbrochen. Ich habe gehört, dass Ihre Söhne heute Morgen dort gesehen worden sind, Mrs. Fletcher. Dass sie mit einem Cricketschläger und einem Ball gespielt haben.«
»Baseball«, warf Joe hilfreich ein.
Alices Gesicht wurde starr, als sie sich umdrehte und Tom ansah. »Was ist passiert?«
»Ich habe gesehen, wie das Fenster eingeworfen wurde«, sagte Harry. »Und auch den Jungen, der es getan hat. Es war jemand namens Jack, John …?« Hilfesuchend sah er Tom an.
»Jake«, sagte Joe. »Jake Knowles.«
»Er stand auf der Mauer, als ich vor der Kirche angehalten habe«, fuhr Harry fort. »Ich habe gesehen, wie er mit dem Schläger ausgeholt und den Ball direkt durch das Fenster geschlagen hat. Ich rede mit seinen Eltern.«
Renshaw sah Harry einen Augenblick lang an. »Bitte bemühen Sie sich nicht«, sagte er schließlich. »Ich regle das schon. Entschuldigen Sie die Störung, Mrs. Fletcher.« Er nickte Alice einmal zu, dann wandte er sich an Harry.
»Es tut mir leid, dass ich Sie heute Morgen verpasst habe, Reverend«, fuhr er fort. »Aber herzlich willkommen, wir essen bald mal zusammen zu Mittag.« Damit ging er die Einfahrt hinunter und wandte sich hügelaufwärts.
Nachdem sie Alice das Versprechen abgerungen hatte, dass sie und ihr Mann in der nächsten Woche zum Abendessen kommen würden, stieg Jenny in ihren Land Rover und fuhr davon. Die Kinder verschwanden abermals.
»Ich muss wirklich los«, sagte Harry. »Ich treffe mich in einer Viertelstunde mit jemandem im Pfarrhaus. Es war schön, Sie alle kennenzulernen.«
Alice lächelte. »Ganz meinerseits, Harry. Bis nächsten Donnerstag.«
7
11. September
Evi zuckte zusammen. Irgendjemand hatte sich ihren Stuhl geborgt und die Höhe verstellt. So war sie gezwungen, sich in einem seltsamen Winkel über ihren Schreibtisch zu beugen, was zusätzlichen Druck auf den beschädigten Nerv verursachte. Sie schaute auf die Uhr. In einer halben Stunde musste sie im Gericht sein. Den Stuhl würde sie neu einstellen, wenn sie das nächste Mal hier war.
Sie öffnete den Artikel, den sie letzte Woche von der Website des Telegraph gespeichert hatte, und überlegte,
Weitere Kostenlose Bücher