Bluternte: Thriller
»Sie kann ja nicht da draußen auf den Hügeln leben, irgendwo muss sie doch hingehören.« Sie hatte einen Schlüssel zu der Renshaw-Gruft. Wäre es möglich …?
»Normalerweise rennt sie weg, wenn ich sie sehe«, meinte Tom. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mit Joe redet.«
»Glaubst du, Joe ist jetzt bei ihr? Glaubst du, sie hat ihn mitgenommen?«
Tom nickte ein ganz klein wenig. »Das habe ich der Polizei auch gesagt«, antwortete er, »aber die haben gesagt, jemand, der so komisch aussieht wie sie, wäre doch in Blackburn aufgefallen, ganz besonders in der King George’s Hall. Sie glauben, ein Erwachsener hat Joe entführt.«
»Trotzdem, ich wünschte, wir könnten sie finden. Tom, hast du je –«
»Tom! Tom!«
Tom setzte sich in Trab. Harry holte tief Luft. »Er ist hier!«, brüllte er, so laut er konnte. »Er ist bei mir!«
Gleich darauf tauchten Gareths Kopf und seine Schultern über dem Rand der Begrenzungsmauer auf. Er stemmte sich hoch und kam mit langen Schritten auf seinen Sohn zu.
»Hast du eigentlich verdammt noch mal eine Ahnung – «, setzte er an.
Harry trat vor. »Tom konnte nicht schlafen«, sagte er rasch. »Er ist rausgegangen, um nach Joe zu suchen. Wir sind uns gerade unten am Hügel begegnet.«
»Deine Mutter hätte fast einen Herzanfall gekriegt. Und jetzt rein mit dir.«
»Immer mit der Ruhe, Kumpel«, mahnte Harry.
Gareth hob die Hände ans Gesicht und atmete schwer. »Ich weiß«, sagte er. »Komm, mein Großer.« Er streckte den Arm aus und zog seinen Sohn an sich. Tom schlang einen Arm um die Taille seines Vaters, und sie gingen zusammen zum Friedhofseingang. Harry folgte ihnen und sah Alice vor ihrer Haustür stehen. Sie beobachtete sie. Ihr dünner Körper schien krampfhaft zu zucken, als gäbe sie sich alle Mühe, nicht zu weinen – oder zu schreien. Auf der anderen Straßenseite gingen die Lichter an, Vorhänge wurden zurückgezogen. Er und Gareth hatten mit ihrem Gebrüll halb Heptonclough aufgeweckt.
Harry blieb zurück, als Gareth und Tom das Kirchengelände verließen und zum Haus der Fletchers zurückgingen. Es war fast sieben. Er sollte nach Hause fahren, sich umziehen, frühstücken. In einer Stunde würde es vollständig hell sein, und Rushton und sein Team würden hier eintreffen. Sie würden acht, vielleicht neun Stunden Tageslicht zur Verfügung haben.
Irgendjemand beobachtete ihn. Er drehte sich um und blickte den Hügel hinauf. Der silberne Audi stand ganz dicht an der Kirchenmauer. Evi war gerade ausgestiegen und stützte sich auf ihren Stock. Sie wartete darauf, dass er zu ihr kam.
79
»Wo zum Teufel warst du, verdammt noch mal? Hast du eigentlich eine Ahnung, was für Sorgen ich mir um dich gemacht habe?«
Er hatte sie an den Oberarmen gepackt. Es war zu zornig für eine Umarmung und zu intim, um irgendetwas anderes zu sein. Er roch nach Schweiß und Staub und Kerzenrauch. Seine Augen waren blutunterlaufen. Sie hob die Hand, strich über die Stoppeln an seinem Kinn.
»Wo hast du übernachtet?«, fragte sie. Sie fühlte, wie ihr Unterkiefer bebte, und dachte bei sich, dass sie anfangen würde zu heulen, wenn er sie nicht bald losließ. Und dann wäre sie wirklich am Ende ihrer Fähigkeiten, irgendwie noch zu funktionieren.
Harry löste eine Hand von ihrem Arm und rieb sich damit übers Gesicht. »Das willst du ganz bestimmt nicht wissen«, antwortete er, ließ sie los und schob die Hände in die Taschen. »Komm und frühstücke mit mir.«
Es gab nichts, was sie lieber getan hätte. Bei ihm zu Hause frühstücken, ihm ein Bad einlassen, ihm beim Rasieren zusehen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Zeit«, erwiderte sie. »Ich muss bei sämtlichen Krankenhäusern der Gegend anrufen und mit den Hausärzten des Bezirks sprechen, wenn sie heute Vormittag ihre Praxen öffnen. Wenn in den letzten dreißig Jahren ein Kind mit angeborener Hypothyreose zur Welt gekommen ist, muss das irgendwo dokumentiert worden sein. Und ich habe gesagt, ich begleite die Fletchers zu der Pressekonferenz.«
»Was war denn gestern?«, fragte Harry.
Evi seufzte. »Ich bin zu meinem Supervisor gefahren«, erwiderte sie. »Er hat ein wenig Erfahrung auf dem Gebiet der Forensik, also dachte ich, seine Ansichten wären vielleicht hilfreich. Das kann ich dir aber später noch erzählen. Wichtig ist erst einmal, dass wir Ebba finden.«
»Hast du mit Gillian gesprochen?«, wollte Harry wissen und schaffte es nicht ganz, ihren Blick zu
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