Bluternte: Thriller
wurde. An manchen Tagen, so kam es Tom vor, konnten die Vorhänge abends gar nicht schnell genug zugezogen werden.
Irgendjemand beobachtete ihn jetzt, das wusste er, jemand, der ganz in der Nähe war. Fast konnte er sein Atmen hören. Er musste einfach hoffen, dass das sein Bruder war. Langsam drehte Tom den Kopf und schaute zur Hausecke hinüber.
Zwei große Augen in einem bleichen, schlaffen Gesicht starrten ihn an. Dann waren sie weg.
Tom rannte zum Haus. Im Türrahmen, wo es halbwegs sicher war, blieb er stehen und drehte sich um.
Ein Mädchen, nach der Größe zu urteilen ungefähr in seinem Alter, flitzte gerade die Mauer hinauf, die den Garten der Fletchers vom Kirchengrundstück trennte. Sie kletterte flink daran empor, als hätte sie das schon oft getan. Langes Haar wehte hinter ihr her, und weite Kleider flatterten in der Brise. Genau wie Tom war sie barfuß, doch ihre Füße waren ganz und gar nicht wie seine. Selbst aus dieser Entfernung sahen sie im Vergleich mit ihrem restlichen Körper riesig aus. Ihre Hände auch.
Dann erblickte Tom noch etwas anderes an der Ecke des Hauses, genau an derselben Stelle, wo das Mädchen aufgetaucht war. Er war schon drauf und dran, mit einem Satz ins Haus zu hechten, als ihm klar wurde, dass es Joe war, in seinem rot-blauen Spiderman-Bademantel.
»Was machst du denn da?«, zischte er, als sein Bruder auf ihn zugetrabt kam. »Komm sofort wieder rein, sonst hole ich Dad.« Als er rasch zur Kirchenmauer hinüberschaute, sah er, dass das Mädchen weg war. War sie wirklich weg, oder versteckte sie sich nur? Denn genau das tat sie doch. Sie versteckte sich und beobachtete die Leute.
»Wir sollten nicht hier sein, Tom«, murmelte Joe.
»Das weiß ich doch«, schoss Tom zurück. »Also nichts wie rein, bevor Mum und Dad aufwachen.«
Joe hob den Kopf. Seine Augen wirkten riesengroß in dem blassen Gesicht. »Nein«, sagte er und ließ den Blick von Tom wegtreiben, zur Mauer hinüber. »Wir sollten nicht hier sein«, wiederholte er. »Hier ist es nicht sicher.«
13
22. September
Millie, das kleine Mädchen mit dem zuckerwattefarbenen Haar, war im Garten. Sie trug abgelegte Sachen von einem ihrer Brüder, dunkelblaue Jogginghosen und ein blau-weißes Fußball-Sweatshirt. Matsch klebte an ihr, wie sie da so auf der nackten Erde saß. Die Windel, die oben aus der Jogginghose hervorlugte, ließ ihr Hinterteil riesengroß aussehen.
»Millie.« Die Stimme ihrer Mutter kam aus dem Innern des Hauses. Sie erschien in der Haustür, eine Plastikschüssel in der einen Hand, die andere entrüstet in die Hüfte gestemmt. »Wie siehst du denn aus?«, rief sie. Millie strahlte zurück. Sie versuchte aufzustehen, schaffte es halb und plumpste dann wieder auf ihren Po.
»Bleib kurz da sitzen, Schatz«, rief Millies Mutter. »Ich hole dir was zum Anziehen. Und dann gehen wir die Jungs holen. Bin gleich wieder da!« Sie verschwand wieder im Haus, und die Kleine öffnete den Mund, um loszuheulen. Dann fuhr ihr Kopf herum. Sie hatte etwas gehört.
Millie rappelte sich auf und tappte über das unebene Grundstück, fast bis zu der Mauer, die es begrenzte. Als sie nur noch ein paar Zentimeter davon entfernt war, blieb sie stehen und schaute hoch. Eine Eibe, möglicherweise mehrere hundert Jahre alt, wuchs im Kirchhof, so dicht an der Mauer, dass sie beinahe ein Teil davon war. Millie schaute hoch.
»’lo«, sagte sie. »’lo, Ebba.«
14
24. September
Sie war größer, als er sie in Erinnerung hatte, aber genauso schlank. Ein Trensenzaum mit Zügeln hing über ihrer Schulter, als sie aus der Pferdebox auftauchte. Sie schob den rechten Arm unter den Sattel, der wartend auf einem Halter lag, und machte sich dann auf den Weg über den Hof. In der linken Hand hielt sie einen stabilen Gehstock aus Metall und Kunststoff, während sie langsam und ungelenk über den Betonbelag schlurfte.
Harry verharrte regungslos, halb von den Ästen eines großen Walnussbaumes verborgen, während er zusah, wie sie auf die Sattelkammer zuhumpelte. Sie drückte die Tür mit der Schulter auf und verschwand ziemlich unbeholfen im Innern.
War das wirklich eine gute Idee? Es war Monate her, dass er sich mit einer Frau verabredet hatte. Und warum in aller Welt hatte er sich ausgerechnet eine ausgesucht, über die er absolut nichts wusste?
Nun, ein oder zwei Dinge wusste er schon, nicht wahr? Zum Beispiel, dass der Ischiasnerv der längste und dickste Einzelnerv des Körpers ist; er hat seinen Ursprung in
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