Bluternte: Thriller
der Lendenwirbelsäule und verläuft über das Gesäß abwärts bis in den Oberschenkel. Er wusste, dass er die Haut des Beines innerviert und außerdem die Muskeln des hinteren Oberschenkels, des Unterschenkels und des Fußes. An dem Tag, an dem er Dr. Oliver begegnet war – sie wurde Evi genannt, wie er inzwischen wusste –, hatte er sich nach dem Abendessen an seinen Computer gesetzt und angefangen nachzuforschen. Zehn Minuten später hatte er das Gefühl gehabt, unerlaubt herumzuschnüffeln.
Die Tür der Sattelkammer ging auf, und sie kam heraus. Jetzt, wo sie nicht mehr mit der ganzen Ausrüstung beladen war, fiel ihr das Gehen leichter, noch immer jedoch zeigte sie dabei ein deutliches, schwankendes Hinken.
Sie erblickte ihn, bevor er sich von der Stelle rühren konnte, und blieb stehen. War das gut oder schlecht? Dann hob sie die Hand, um den Kinnriemen zu öffnen und die Reitkappe abzunehmen. Gut? Sie ging weiter, kam auf ihn zu, und dieses Zucken in ihrem Gesicht konnte ein Lächeln sein oder auch ein Zeichen der Verlegenheit. Schwer, das mit Sicherheit zu sagen, und ihm blieb keine Zeit mehr, sich für das eine oder andere zu entscheiden, denn sie war keinen Meter mehr entfernt, und er musste wirklich …
»Hallo.« Sie hatte zuerst etwas gesagt. Hallo war doch okay, oder? Besser als Was zum Teufel machen Sie denn hier?
»Hi. Schönen Ritt gehabt?« Schönen Ritt gehabt! Fiel ihm wirklich nichts Besseres ein?
»Sehr nett, danke. Was machen Sie hier?«
Er zog die rechte Hand aus der Hosentasche. Zehn Sekunden seit Gesprächsbeginn, und er musste bereits auf Plan B zurückgreifen.
»Gehört das hier Ihnen?«, fragte er, als das dünne Silberarmband mit den blauen Steinen im Licht aufschimmerte. Sie machte keine Anstalten, danach zu greifen.
»Nein«, antwortete sie und schüttelte den Kopf. An den Schläfen war ihr Haar schweißfeucht und von der Reitkappe plattgedrückt. Sie hob die Hand dorthin und ließ sie wieder sinken. Ihr Gesicht war rosig, vor fünf Tagen war es vor Schock blass gewesen.
»Haben Sie das auf der Straße gefunden?«, erkundigte sie sich.
»Nein. Ich hab’s vor ein paar Tagen auf dem Markt von Rawtenstall gekauft«, gestand er. Schön, das war ein bisschen sehr riskant, aber vielleicht hatte es sich ja ausgezahlt. Das Zucken um ihren Mund war breiter geworden, grenzte möglicherweise sogar an ein Lächeln.
»Das war ein bisschen voreilig«, meinte sie. »Ich glaube nicht, dass die Farbe Ihnen steht.«
»Sie haben recht, ich bin mehr der Typ für Zartgelb. Aber ich brauchte eine Ausrede.«
Jawohl, definitiv ein Lächeln. »Wofür denn?«, wollte sie wissen.
»Ich habe mir Sorgen um Duchess gemacht.«
»Um Duchess?« Ihre Lippen waren wieder gerade. Die Augenbrauen hochgezogen. Die Augen lächelten immer noch.
»Ja, wie geht es ihr?« Er drehte sich zu der Box um, wo der Apfelschimmel stand und sie beobachtete, und trat ein paar Schritte darauf zu. »Das ist sie doch, oder?«
Sie folgte ihm. Er konnte das Aufsetzen des Gehstocks auf dem Beton hören. »Das ist Duchess«, bestätigte sie. »Ihr ist bei ihrem Abenteuer am Wochenende nichts passiert. Von dem ich hier übrigens niemandem erzählt habe.«
»Meine Lippen sind versiegelt. Wie steht sie zu Pfefferminz?«
Sie stand jetzt neben ihm, Zentimeter entfernt. »Dafür beißt sie Ihnen glatt die Hand ab.«
Wieder tastete Harry in seiner Tasche und holte die dünne grüne Rolle Polo Mints hervor, die er ebenfalls auf dem Markt erstanden hatte. In ihrer Box wieherte Duchess ihm tief und leise entgegen. Zwei Boxen weiter begann ein anderes Pferd gegen die Tür zu treten.
»Jetzt haben Sie es geschafft«, bemerkte Evi. »Pferde können Polo Mints durch das Papier hindurch riechen. Und sie erkennen die Verpackung.«
»Na, wenigstens freut sich jemand, mich zu sehen«, meinte Harry, wickelte das Papier ab und hielt Duchess die flache Hand hin. Den Bruchteil einer Sekunde später war das Pfefferminz durch einen ordentlichen Klacks Pferdespucke ersetzt worden. Also, was genau sollte er jetzt bitte damit machen? Das Zeug an seiner Jeans abzuwischen würde nicht gut aussehen.
»Ich sollte mich hinsetzen«, sagte Evi. »Ist das okay?«
»Selbstverständlich«, beteuerte Harry und schlenkerte seine Finger, um sie zu trocknen. »Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein«, antwortete sie. »Ich kann bloß nicht lange stehen.« Sie hob den Gehstock an und hinkte über den Hof zurück zu dem Walnussbaum, wo ein paar Plastikstühle
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