Blutfehde
ich. »Dein Bein. Es lohnt sich nicht. Du machst es nur schlimmer.«
Er winkte ab und lief über die Straße.
Ein Kopf kam neben dem alten Granitstein zum Vorschein.
»Es ist kein Mann«, sagte Mike und blieb stehen, als ich ihn eingeholt hatte. »Es ist Trish Quillian.«
Die Gestalt in Schwarz duckte sich unter einen Ast und verschwand zwischen dem Gestrüpp und den Gräbern auf der anderen Seite der Straße. Wir hatten sie aus den Augen verloren.
»Das Mädchen hat echt nicht alle Tassen im Schrank«, sagte Mike. »Ich wette, sie hat am Grab ihrer Freundin gewartet, um zu sehen, ob etwas passiert. Ich frag mich nur, warum.«
34
Als ich den Sektionsraum im Leichenschauhaus betrat, schlug mir ein moderiger Geruch entgegen. Ich war schon an Tatorten gewesen, wo die Leichen tagelang in Schränken oder verschlossenen Räumen gelegen hatten und der Gestank unerträglich gewesen war. Dieser Geruch war nur abgestanden und unangenehm.
Jerry Genco stand neben dem Fotografen, der sich mit seiner Kamera über den Sarg beugte, und unterhielt sich mit Mike.
»Lassen Sie das Naserümpfen, Alex. Hier gibt’s nichts zu riechen«, sagte Jerry.
Wie bei den meisten Rechtsmedizinern waren seine Geruchsnerven im Laufe der Jahre abgestumpft.
»Bist du bereit?«, fragte Mike.
Ich nahm nicht gern an einer Obduktion teil, ich mochte weder den Anblick noch die Geräusche oder meine unvermeidlichen Überlegungen, wie sich die Verstorbene zu Lebzeiten bei dem Gedanken an eine derartige Untersuchung gefühlt hätte. Ich hatte enormen Respekt vor den Ärzten, die diese wichtige Aufgabe ausführten, und war immer wieder aufs Neue erstaunt, welche Geschichten ihnen die Leichen enthüllten. Es war gut zu wissen, dass Mike während der ganzen Prozedur anwesend wäre, aber in dem Fall war es besser, wenn ich nicht Zeugin der erneuten Obduktion war.
»Ich bleibe nicht«, sagte ich und hob abwehrend die Hand.
Manchmal war es unerlässlich, den Prozess zu verstehen. Ich war noch nie bei einer Exhumierung dabei gewesen, und ich wusste, dass Battaglia Fragen stellen würde, die ich beantworten müsste. Sollten wir das Glück haben, Bex’ Mörder zu ermitteln, müsste eines Tages auch ein Schwurgericht wissen, was genau vorgefallen war. Also würde ich in der Nähe bleiben, für den Fall, dass sich während der weiteren Arbeitsschritte etwas Entscheidendes ergab.
Der Fotograf machte noch ein paar Aufnahmen und verließ dann den Raum.
Genco trat zur Seite, um mir Platz zu machen, und bot mir ein TicTac an. »Aspergillus. Das ist alles, Alex. Die Leiche ist ziemlich gut erhalten - dank der Einbalsamierung und einer Portion Glück. Was man hier sieht, ist ein bisschen Schimmel auf der Hautoberfläche. Das ist zu erwarten. Daher kommt auch der Geruch.«
Ich sah auf die Leiche von Rebecca Hassett hinab. Auf der weißen Satinauslage des Sargs, die im Laufe der Jahre fleckig geworden war, wirkte ihre Haut gummiartig und verfärbt. Ihre schwarzen Haare, die auf Fotos so glänzend und voll aussahen, lagen verklumpt zu beiden Seiten ihres grünlich verfärbten Gesichts. Die einst lebhaften Augen waren geschlossen, wahrscheinlich hatte man sie ihr im Bestattungsinstitut für die Totenwache zugenäht.
Ich war entsetzt und fasziniert zugleich. Ich konnte meinen Blick einfach nicht von dem zierlichen Körper abwenden, während immer wieder Bilder eines ungelebten Lebens vor meinem geistigen Auge aufblitzten.
Ihre Totenbekleidung hatte ebenfalls sehr gelitten. Der schwarze Baumwollpullover und der Faltenrock hatten Löcher. Um den Hals trug sie eine Kette mit einem silbernen Kreuz, neben dem Mädchen lag ein abgewetztes Stofftier, das vermutlich ein Familienmitglied in den Sarg gelegt hatte. Die braunweiße Bulldogge erinnerte mich daran, dass sie trotz ihrer Aufsässigkeit und Unabhängigkeit zum Zeitpunkt ihres Todes noch ein Kind gewesen war.
»Was passiert als Nächstes?«, fragte ich und wandte Rebecca widerwillig den Rücken zu.
»Wir heben sie auf den Tisch, entkleiden und waschen sie. Ich werde als Erstes eine äußere Beschau durchführen. Danach untersuche ich die inneren Organe.«
»Wurde damals eine Inventur gemacht?«
»Das ist schon mal das erste Zeichen, dass man diesen Fall nicht so ernst genommen hat«, sagte Genco. »Ich habe überall vergeblich nach einem Vermerk darüber gesucht, dass der Doc die Halsorgane konserviert hat. Ein sorgfältiger Mediziner hätte das Zungenbein, die Luftröhre und die anderen Teile des
Weitere Kostenlose Bücher