Blutfehde
grüßen.
Mercer stellte mich George Golden vor, einem leitenden Geologen des städtischen Umweltamtes. »Vier Detectives sind bereits unten im Tunnel. Erwarten Sie noch jemanden?«, fragte Golden. Der Mittfünfziger hatte einen stark gebräunten Teint, schwere Augenlider und eine spitze Nase, die an den Schnabel eines Falken erinnerte.
»Nein, wir sind vollzählig«, sagte Mike. »Fangen wir hier oben an. Womit haben wir es hier zu tun?«
»Wir stehen direkt über der Hauptader des Wassertunnels Nummer drei. Ich rede von einer Rohrleitung, die hundert Kilometer lang und einhundertachtzig Meter unter der Erde ist, deren Baukosten auf über sechs Milliarden - nicht Millionen - sechs Milliarden Dollar geschätzt werden. Wenn wir Glück haben, sind wir zozo fertig.«
»Warum ist sie so tief unter der Erde?«, fragte Mike.
»Der Baubeginn von New Yorks erstem Tunnel war 1911. Seit einem Jahrhundert bauen wir hier eine unterirdische Stadt, ein wahres Labyrinth an Pipelines, das außer diesen Arbeitern nie jemand sehen wird. Dort unten sind U-Bahnen, Stromleitungen und Abwasserkanäle, und wiederum ein Stockwerk tiefer ist der zweite Wassertunnel. Also mussten wir für den hier noch tiefer graben.«
»Wie viel Wasser braucht es denn, damit die New Yorker genug zum Trinken haben?«, fragte Mercer.
»Und zum Baden. Und für die Klospülung. Mindestens fünf Milliarden Liter am Tag.«
Ich sah Mikes nachdenklicher Miene an, dass ihn die Geschichte faszinierte und er mehr über diese Tunnel wissen wollte. »Was ich nicht verstehe: Als die Holländer die Insel Manhattan im siebzehnten Jahrhundert besiedelten und die Indianer aufs Festland vertrieben, waren sie da nicht schlau genug zu realisieren, dass sie Trinkwasser brauchten?«
»Natürlich wussten sie, dass sie vollständig von Salzwasser umgeben waren, Mike. Aber vor mehreren hundert Jahren war das noch kein besonderes Problem«, sagte Golden. »Die Hauptsiedlungen befanden sich bekanntlich alle an der Südspitze der Insel.«
Die meisten New Yorker kannten die Geschichte, wie die West India Company den Lenape-Indianern Mannahatta für sechzig Gulden, umgerechnet vierundzwanzig Dollar, abgekauft hatte. Neu-Amsterdam war eine Siedlung am Hafengebiet, und die Bevölkerung breitete sich im Laufe der nächsten zwei Jahrhunderte nur langsam nach Norden aus.
»Damals gab es noch viele Süßwasservorkommen in Form von Flüssen und Bächen auf der Insel«, sagte Golden. »Sherman’s Creek oben in Washington Heights, Harlem Creek, Lispenard Meadows. Und es gab mehrere kills wie beispielsweise den Great Kill, direkt an der 42. Straße, und den Saw Kill im Central Park.«
»Ja, manche der kills kennen wir ziemlich gut«, sagte Mike mit einem Seitenblick zu Mercer. Im gesamten Hafengebiet von New York waren schmale Buchten und Wasserwege nach dem holländischen Wort für »Kanal« benannt.
»Das größte Naturdenkmal von Manhattan war wahrscheinlich der Fresh Water Pond. Ein dreißig Hektar großer Teich mit kristallklarem Quellwasser. Zusammen mit den Brunnen, die man in der Nähe der Häuser gegraben hatte, und den Zisternen, in denen man Regenwasser speicherte, schien es für alle mehr als genug zu sein.«
»Fresh Water Pond? Nie gehört«, sagte Mike.
»Wie wär’s mit Collect Pond?«, antwortete Golden. »So hieß es, als die Engländer die Macht übernahmen. Kokk ist holländisch und bedeutet >kleines Gewässer<.«
Mike zuckte die Achseln. »Wo ist dieser Teich heute?«
Golden zeigte auf mich. »Sie arbeiten im Gerichtsgebäude, richtig? 100 Centre Street?«
»Ja.«
»Der Teich war ungefähr an der Stelle. Er erstreckte sich östlich vom Broadway fast über die gesamte Fläche von der Chambers Street bis zur Canal Street. Ihre Büros befinden sich direkt über dem Collect Pond.«
Auf diesem Areal befanden sich jetzt die Regierungsgebäude in Lower Manhattan, vom Rathaus über die Federal Plaza bis hin zu den heutigen Zivil- und Strafgerichten, die von den ursprünglichen Stadtplanern auf den Namen »Hallen der Gerechtigkeit« getauft worden waren.
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Mike. »Warum wird über einer Wasserquelle gebaut, wenn das Zeug so rar ist? Ist sie ausgetrocknet?«
»Es ist eher anzunehmen, dass die Zerstörung der geringen Süß wasservorkommen durch das Bevölkerungswachstum und die damit einhergehenden sanitären Verunreinigungen verursacht wurde. Die paar Brunnen reichten für die Tag für Tag anwachsende Menschenmenge nicht mehr aus,
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