Blutfehde
Gedanke.
»Ich habe ihn erst gestern bei der Totenwache wiedergesehen«, sagte Trish. »Man kann es ihm nicht verübeln, oder? Er hat es wirklich geschafft, mein großer Bruder. Er hat die Seiten gewechselt und sich ein neues Leben aufgebaut. Bis ihm jemand den Mord an Amanda angehängt hat.«
»Jetzt wissen wir einiges über Ihre Familie«, sagte Mike. »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum Sie glauben, dass die Hassetts Ihren Bruder Duke umgebracht haben. Sie haben nie erwähnt -«
»Sie haben doch jetzt sicher ein Bild von meinem Vater, Mr Chapman? Dann verstehen Sie bestimmt auch, dass er ein paar Leuten auf den Schlips getreten ist, solange er lebte.«
Mike versuchte die richtigen Worte zu finden. »Offenbar war er sehr stolz, sehr zäh.«
»Gefürchtet und gehasst. Diese Worte hörte ich oft, als ich klein war. Ungefähr sechs Monate vor der ganzen Sache mit Brendan, bevor man am Wassertunnel Nummer drei in der Bronx zu arbeiten begann, passierte ein schrecklicher Unfall unter der Erde.«
»Eine Explosion?«, fragte ich.
»Nein, nichts in der Art«, sagte Trish. »Der alte Hassett, also der Vater der Jungs, wurde von einer Maschine an die Wand gedrückt und zerquetscht.«
Noch eine qualvolle Todesart für meine Liste. »Sie sagten, es sei ein Unfall gewesen?«
»Ich war damals noch ein Mädchen. Ich wuchs in dem Glauben auf, dass es ein Unfall war. Aber das war das letzte Mal, dass die Quillians und Hassetts gemeinsam in den Schacht gefahren sind. Mein Vater hatte an dem Tag die Schichtleitung, und Duke arbeitete in der Schicht mit Mr Hassett.«
»Das ist über zwölf Jahre her, Trish«, sagte Mike. »Warum glauben Sie -?«
Sie griff unter ihren Mantel und zog einen gefalteten Umschlag aus ihrer Rocktasche. »Für manche Leute ist Geduld wohl wirklich eine Tugend.«
Sie gab Mike den auseinandergefalteten Brief, und er strich ihn auf der Tischplatte glatt, damit wir ihn gemeinsam lesen konnten.
»Sehen Sie das Datum?« Trish zeigte auf den Poststempel. »Sie hatten Brendan am Tag zuvor verhaftet, und alle Nachrichten berichteten darüber, dass er jemanden angeheuert habe, um Amanda zu töten.«
»Der Brief ist an Duke adressiert«, sagte Mike. »Wo haben Sie den her?«
Trish wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ich habe gestern früh seine Sachen aufgeräumt und dabei den Brief in seiner Kommode gefunden, in der obersten Schublade, unter der Uhr, die er von meinem Vater geerbt hatte.«
Ich las den Brief noch einmal und dachte dabei an das Hinweisschild am Aufzug, mit dem wir am Donnerstag in den Schacht hinuntergefahren waren. Duke: Das einäugige Wunderkind ist weg vom Fenster. Finger weg von der Tür. Amputationsgefahr’.
20
»Trish«, sagte Mike. »Ich verstehe noch nicht, was das mit jemandem namens Hassett zu tun hat.«
»Das >einäugige Wunderkind< - das war ihr Spitzname für Brendan. So haben sie ihn genannt, um ihn wegen seines blinden Auges zu verspotten.« Sie schob den Ärmel ihres Mantels zurück und sah auf ihre Uhr. »Ich muss jetzt zur Totenwache.« Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in den Umschlag. »Wenn Sie mir nicht glauben, wird es noch mehr Tote geben. Aber wie Sie wollen.«
Mike nahm ihr den Umschlag aus der Hand. »Wir werden der Sache nachgehen. Ich kann nichts versprechen, aber wir können den Brief analysieren lassen. Haben Sie Brendan bei Ihrem gestrigen Treffen davon erzählt?«
»Sehen Sie den Riss da? Er wollte den Brief behalten. Er wollte nicht, dass ich damit zu Ihnen gehe.«
»Sie haben ihm gesagt, dass Sie mich anrufen würden?«
»Ich habe ihn gefragt, ob ich das tun soll. Er war stinksauer. Er meinte, das sei eine Schnapsidee und dass niemandem geholfen sei, wenn ich diese alten Wunden wieder aufreiße. Zum Teufel - ich schulde Brendan nichts. Ich muss das tun, was für Duke richtig ist.«
Mike zog seinen Notizblock aus der Jackentasche. »Wie viele Hassett-Geschwister gibt es? Wo wohnen sie?«
»Drei Jungs«, sagte Trish und nannte ihre Namen. »Bobby ist vierundzwanzig, das habe ich ja schon gesagt, und die Zwillinge müssen jetzt zweiundzwanzig sein. Sie wohnen alle in Queens. Douglaston. Sie sind nach dem Unfall ihres Vaters von hier weggezogen.«
»Douglaston ist eine gute Gegend«, sagte ich.
»Es ist nicht mehr wie früher«, sagte sie. »Tunnelarbeiter verdienen recht ordentlich. Meinen jüngeren Brüdern geht’s nicht schlecht. Aber Duke hatte die gleichen verdammten Laster wie mein Vater.
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