Blutfehde
verstand unser Leben nicht. Sie hat ihn vor vier oder fünf Jahren verlassen. Keine Kinder. Vielleicht hatte das auch mit seiner Krankheit zu tun. Mitte zwanzig bekam er Krebs. Es hatte ihn ziemlich schlimm erwischt; er hätte es fast nicht geschafft. Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, dass er das alles überstanden hat, nur um dann von diesen Schweinen umgebracht zu werden.«
»Wie alt sind Sie?«, fragte Mike.
»Achtundzwanzig.«
Ich musterte sie erneut und fragte mich, ob es außer der Trauer noch einen anderen Grund dafür gab, dass sie so verhärmt aussah.
»Und Sie wohnen…?«
»Bei meiner Mutter. Sie hat Alzheimer. Diese verdammte Krankheit hat immerhin einen Vorteil: Sie weiß nicht, dass sie Duke verloren hat. Ich habe es ihr gestern Abend erzählt, als sie mich weinen sah, aber sie versteht nicht, was es bedeutet. Fünf Minuten später fragte sie mich, ob ich Duke schon gesehen hätte.«
»Sind Sie berufstätig?«
»Ich habe früher im Pfarrbüro ausgeholfen. Sekretariatsarbeiten und so. Aber seit drei Jahren kann ich sie nicht mehr allein lassen. Deshalb brauchten wir Duke. Er gab uns immer Geld, damit ich sie nicht Fremden überlassen musste.«
Mike signalisierte dem Barbesitzer, Trish nachzuschenken.
»Was ist mit Ihren anderen Brüdern?«
»Richie, er ist dreiunddreißig. Die Familie seiner Frau ist in der dritten Generation Tunnelbauer. Sie haben drei Kinder. Und Marshall, er ist dreißig. Benannt nach Marshall Mabey. Sagt Ihnen das was?«
Mike verneinte.
»Mein Ururgroßvater hat 1916 zusammen mit ihm den East River untertunnelt und die BMT-U-Bahn gebaut.« Mit jedem Tunnelprojekt, das Trish erwähnte, erweiterte sich mein Bewusstsein von der Stadt unter unserer Stadt. »Es gab einen großen Ausbruch, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Sie meinen, wenn der Caisson unter dem Flussbett dem Wasserdruck nicht mehr standhalten kann?«, fragte Mike.
»Ja, genau. Man erzählt sich, dass der alte Quillian das schreckliche Kreischen, das den Ausbruch ankündigte, hörte und sich rechtzeitig retten konnte. Er rannte in die Luftschleuse zurück. Drei Arbeiter wurden von der entweichenden Luft vier Meter tief ins Flussbett hinuntergesaugt und wie eine Kanonenkugel ausgespuckt. Zwei sind bis in alle Ewigkeit unter dem Beton begraben. Aber Marshall Mabey wurde durch die Druckluft wie auf einem Geysir nach oben geschleudert, durch den Schlamm und das Wasser, fünf Stockwerke hoch.«
»Es ist jedenfalls eine gute Geschichte, Trish.«
»Sie ist wahr. Viele Tunnelbauer haben ihre Kinder nach Marshall benannt. Er ist noch in derselben Woche wieder zur Arbeit gegangen. Er ist jedermanns Held. Die Besten überleben.«
»Was ist mit Brendan?« Ich fragte mich, wie mein Angeklagter es aus dieser unterirdischen Bruderschaft in eine so völlig andere gesellschaftliche und berufliche Welt geschafft hatte. »Warum sagten Sie, dass er nicht mehr zählt?«
Trish sah mich zum ersten Mal an, seit sie Mikes Fragen beantwortete. »Wenn Sie hoffen, dass ich etwas Schlechtes über ihn sage, muss ich Sie mächtig enttäuschen.«
Mike nahm mir das Heft aus der Hand. »Es war mein Fehler, Trish. Ich bin derjenige, der Ihren Bruder verhaftet hat, und ich wusste von keinem von Ihnen. Wie kann das sein?«
Trish versteifte sich und holte tief Luft. Sie schien zu überlegen, ob sie uns von Brendan erzählen sollte.
»Brendan hat’s geschafft, Mr Chapman. Er war derjenige von uns, der dazu bestimmt war, dem Leben zu entfliehen, das die Quillians seit ihrer Ankunft in Amerika für sich gewählt hatten.«
Ihre Stimme klang verbittert, und sie kaute wieder an ihrer Unterlippe.
»So nennen Sie es: entfliehen?«
»Meine Mutter war sehr religiös. Fromm. Sie glaubte, dass Gott für Brendan ein anderes Leben vorgesehen hatte, dass er anders war als wir.«
»Und Ihr Vater?«
»Für den war meine Mutter an allem schuld. Er sagte, es sei doch bloß ihr Plan und sonst nichts. Gott hätte damit nichts zu tun. Ihre hochtrabenden Pläne für den Jungen - und das hätte sie jetzt davon. Er hat sie sogar für diesen Unfall verantwortlich gemacht.«
»Für welchen Unfall?«, fragte Mike.
Trish runzelte die Stirn. »Sie wissen doch, dass Brendan auf einem Auge blind ist?«
Mike nickte, und mir fielen sofort die eisigen Blicke ein, die mir Brendan im Gerichtssaal zuwarf und die wahrscheinlich nur leere Blicke aus seinem Glasauge waren.
»Er war fünf, als es passierte, damals war ich noch nicht auf der Welt. Meine
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