Blutfehde
Gefangene oder vorbestrafte Täter jener Verbrechen überführte, die von der Polizei und der Staatsanwaltschaft zum Teil längst ad acta gelegt worden waren.
Insbesondere Tötungsdelikte wurden von der Polizei und der Staatsanwaltschaft mit neuen forensischen Methoden verfolgt, die zum Tatzeitpunkt noch nicht existiert hatten. Im Gegensatz zu anderen Verbrechen gab es bei Mord keine Verjährungsfrist, und so durchforsteten die Detectives alte Akten und Beweismaterial, in der Hoffnung, einen »Treffer« zu landen, sprich eine Übereinstimmung mit dem DANN-Profil eines Straffälligen in dem ständig wachsenden Datenbankensystem zu finden.
Wir verließen Throgs Neck und fuhren in ein weniger schmuckes Viertel des Bezirks - 1086 Simpson Street -, wo die Mordkommission der Bronx untergebracht war. Am Sonntagabend war es im Mannschaftsraum erwartungsgemäß ruhig. Im Sommer, wenn es auf den Straßen heiß herging und die Mordrate Spitzenwerte erreichte, hätten die Ermittler an den Wochenenden mehr zu tun. Momentan schienen sich Spiro Demakis und sein Partner Dennis Gibbons auf den mühsamen Papierkram zu konzentrieren, der eine gute Ermittlungsarbeit auszeichnete.
»Habt ihr in Manhattan nicht genug zu tun?«, fragte Spiro, als er uns über den Gang in ein kleines Büro führte, in dem die ungelösten Fälle des Bezirks lagerten, und das Licht anschaltete. »Ich habe vier Schießereien, alle im Drogenmilieu, ohne einen einzigen glaubwürdigen Zeugen, und zwei Fälle häuslicher Gewalt: ein Typ hat die Mutter seiner Freundin und drei Kinder einfach so umgebracht. Letzte Woche gab’s eine Schießerei aus dem fahrenden Auto heraus mit einem Dutzend Schaulustiger, die alle nichts gesehen haben wollen. Bei uns habt ihr’s nicht mit den Lichtern des Broadway zu tun, aber falls ihr ein paar Fälle in der Bronx übernehmen wollt, nehme ich die Hilfe gern an.«
»Wenn Coop ihren Fall in den Sand setzt, muss sie sich vielleicht nach einer neuen Stelle umsehen.«
»Sie haben diesen reichen Schnösel, der einen Killer für seine Frau angeheuert hat, stimmt’s? Wenn man den Zeitungen glauben kann, bewegen Sie sich auf dünnem Eis, Alex.«
»Abwarten, Spiro. Ich habe noch ein paar Überraschungen in petto.«
»Ich beneide Sie jedenfalls nicht darum, gegen Lern Howell antreten zu müssen. Vor ein paar Wochen hat er einen Staatsanwalt hier in der Bronx zur Schnecke gemacht. Der Prozess hat sich über drei Monate hingezogen, und die Geschworenen brauchten am Ende nicht länger als die Mittagspause, um sich zu beraten.« Spiro schloss einen Aktenschrank auf und warf ein paar Akten auf einen der Tische. »Wer immer damals der Boss war, er muss den Fall hier ad acta gelegt haben. Der zuständige Detective war nicht gerade einer unserer Hellsten. Er ging ungefähr ein Jahr später in Pension. So wie’s aussieht, hat er sich kein Bein ausgerissen.«
Mike zog einen zweiten Stuhl herbei und setzte sich neben mich. »Kanntest du ihn?«, fragte er, während ich die ersten Seiten überflog.
»Nur vom Hörensagen«, sagte Spiro von der Tür. »Er scheint sogar ein Geständnis gehabt zu haben. Dann hat sich der Täter nach Hause in die Dominikanische Republik abgesetzt, und man hat die Sache nicht weiter verfolgt. Vielleicht kümmere ich mich selbst um den Fall. Klingt nach einer leichten Festnahme. Bedient euch. Der Kopierer steht bei uns drüben.«
»Wo ist das Geständnis?«, fragte Mike und blätterte in einem der Ordner.
»>Rebecca Hassett. Weiblich, weiß, sechzehn Jahre alt<«, las ich laut vor. »>Fundort: Auf dem Golfplatz, neben dem Fairway am achten Loch, in einem Entwässerungsgraben.<«
»Das ist sie.« Mike studierte zwei Fotos, die in einem kleinen Umschlag an den Aktendeckel geheftet waren, und reichte sie mir dann.
Das erste Foto stammte aus einem Schuljahrbuch und war wahrscheinlich nur wenige Monate vor ihrem Tod aufgenommen worden. Bex hatte dunkle braune Augen, dichte schwarze Haare - wie Mike -, die stufig geschnitten ihr blasses Gesicht einrahmten, und machte einen ernsten Eindruck. Auf dem Foto wirkte sie älter als sechzehn, aber vielleicht lag es auch nur an ihrem Makeup. Sie war mager und trug einen schwarzen Rollkragenpullover und um den Hals eine Kette mit einem einfachen Kreuzanhänger.
»Ein hübsches Mädchen«, sagte ich.
Das zweite Foto, eine Polaroidaufnahme, die ein Detective am Tatort gemacht hatte, zeigte Bex’ Gesicht und Oberkörper. Ich hätte das Mädchen nicht wiedererkannt. Ihr Kopf lag
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