Blutfehde
seitlich auf dem Boden, ihre vormals blasse Haut war bläulich verfärbt, die geschwollene Zunge hing ihr aus dem Mund. Der Reißverschluss ihres Pullovers war bis zur Brust heruntergezogen, ihr Kinn war mit Kratzern übersät. An ihrem Hals waren ovale Blutergüsse zu erkennen, wahrscheinlich die Fingerabdrücke des Mörders.
»Was ist das hier?«, fragte ich Mike und zeigte auf einen Abdruck innerhalb des verfärbten Hautbereichs.
Er beugte sich zu mir und besah sich das Foto noch einmal. »Keine Ahnung. Ist der Autopsiebericht in deinem Ordner?«
Ich überblätterte mehrere Polizeiberichte, bis ich den rechtsmedizinischen Befund fand.
»Erwürgung«, sagte ich und überflog die erste Seite des Berichts. »Nach Auskunft des Rechtsmediziners stammen diese Linien am Hals vom Reißverschluss ihres Pullovers, der sich unter den Händen des Täters in ihre Haut schnitt. Im Archiv des Leichenschauhauses müssen noch Großaufnahmen ihrer Verletzungen sein.«
Ich betrachtete noch einmal das Polaroid. Der Abdruck, den der breite Metallreißverschluss auf Bex’ Hals hinterlassen hatte, sah aus wie die Gleisspur einer Miniatur-Eisenbahn.
»Vergewaltigung?«, fragte Mike.
Ich fuhr mit dem Finger über den Text, um die Beschreibung des Scheidengewölbes zu finden. »Keine Anzeichen. Jedenfalls keine vollzogene Vergewaltigung.«
»Wie liest sich der Bericht, Coop? Wurde sie überhaupt daraufhin untersucht?«
Ich wusste, was Mike damit meinte. Bei einer Sechzehnjährigen, die in den letzten Wochen vor ihrem Tod ein wildes Leben geführt hatte, gingen sowohl die Ermittler als auch die Hinterbliebenen oft von einer Mitschuld des Opfers aus. Möglicherweise hatte man den Fall nicht so gründlich untersucht, wie man es bei einem Mordopfer aus Manhattans Upper East Side getan hätte. Möglicherweise hatte es in jener Woche noch viele andere Mordfälle gegeben, und ein Detective, der sich weniger als Mike Chapman für seine Opfer interessierte, hatte den Fall auf Eis gelegt.
»Das Grundlegende wurde gemacht«, sagte ich. »Detaillierte Untersuchung der äußeren und inneren Genitalien. Vaginalabstriche. Beide negativ. Unter der UV-Lampe war auch nichts zu erkennen.«
Spuren von Samenflüssigkeit oder Sperma im Körper oder an den Oberschenkeln hätten auf eine Penetration hingedeutet. Da Sperma unter UV-Licht fluoreszierte, suchte man eine Leiche routinemäßig nach Spuren ab, die mit dem bloßen Auge nicht auszumachen waren.
»Man hat auch das Schamhaar ausgekämmt«, sagte ich. »Keine losen Objekte, keine Fremdkörper.«
»Bisswunden?«, fragte Mike. Bisswunden waren klassische Verletzungen bei einem Affektmord mit versuchter Vergewaltigung.
»Nein. Es sieht nicht so aus, als hätte Bex sonst irgendwo am Körper Abschürfungen gehabt.«
»Fingerabdrücke an den Oberschenkeln? Ich meine, steht da ausdrücklich, dass es keine gab?« Ein Vergewaltigungsversuch hatte oft Blutergüsse und Quetschungen zur Folge, wenn der Angreifer versuchte, dem Opfer die Oberschenkel auseinanderzudrücken.
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, aber sieh dir die Zeichnung an.« Ich zeigte auf die Umrissskizze der Leiche, die Teil des Autopsieberichts war. »Außer am Hals weist der Körper sonst keine größeren Verletzungen auf.«
Ich konnte Mike ansehen, dass Bex Hassett zu einem seiner Fälle wurde, während er mir zuhörte und die Berichte des Detectives auswertete. Wie bei jedem ungelösten Mordfall, der ihm zwischen die Finger kam, übte er herbe Kritik an dem Detective, der den Fall einfach ad acta gelegt hatte, obwohl er sogar ein Geständnis bekommen hatte.
Mike blätterte in den Unterlagen, die im zweiten Aktenordner abgelegt waren. »Wie steht’s mit Geschabsei von den Fingernägeln?«
Ich dachte an Amanda Keating und ihre verzweifelten Versuche, ihrem Mörder die Hände wegzudrücken, damit sie wieder Luft bekam.
»Nein.«
»Nein, man hat keine Geschabsei genommen?«, fragte er ungeduldig.
»Doch, aber der Befund ist negativ.«
Er streckte den Arm nach dem Ordner aus. »Es muss doch irgendwelche Anzeichen eines Kampfes geben. Das klingt ja so, als hätte sich das Mädchen nicht einmal gewehrt. Warum glaubt Trish Quillian dann, dass sie vergewaltigt wurde?«
»Da hast du deine Antwort.« Ich reichte ihm die Papiere. »Dritter Absatz von unten. Bex hatte über 2,3 Promille im Blut. Deshalb konnte sie sich nicht wehren.«
Mike pfiff leise durch die Zähne. »Großer Gott, die Ärmste muss stockbesoffen gewesen sein. Ein
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