Blutfeuer
spürte, wie die Morgensonne langsam ihren
Insektenkörper erwärmte. Sie streckte und spannte ihre Hautflügel, so weit sie
konnte. Sie wusste, dass heute der Tag des Neuanfangs gekommen war. Heute würde
sich ihr Volk aus den Wassern erheben und neues Terrain für die Sippe der
Culicidaen, der Fiebermücken, erobern. Sie hatte den langen Weg in dem Sturm
auf sich genommen und tatsächlich überlebt. Nur die Starken setzten sich in der
Natur durch, und sie hatte sich als stark und zäh erwiesen. Nun war es an der
Zeit, die Belohnung dafür einzuheimsen und ihre guten Gene weiterzuverbreiten.
Wieder spannte sie ihre Flügel. Während sie sich mit feinem Sirren fliegend von
ihrem Schilfrohr wegbewegte, konnte sie noch einige Blicke auf ihre schlüpfende
Brut werfen. Es war so weit. Endlich konnte sie sich ungestört ihrer …
Der Schnabel schnappte zu, und Anopheles die Siebte hatte keine Zeit
mehr, über ihre weitere Zukunft zu sinnieren. Sie hatte keine mehr. Nur kurz
ragten ihre beiden Flügelenden rechts und links aus dem Schnabel heraus, dann
wurde sie zwecks Verdauung eine Etage tiefer geschluckt.
Die Flussregenpfeiferin spürte dem Geschmack noch etwas nach. Etwas
eigenartig im Abgang, dachte sie, und auch die Tannine hinten auf der Zunge
kamen ziemlich stark daher. Diese Mücken waren wirklich schon etwas über der
Zeit und mussten schnellstmöglich gegessen werden. Kein besonders guter
Jahrgang. Vielleicht hatte sich aber auch die Küche in Franken während ihrer
Abwesenheit verändert? Zum Glück war sie nicht besonders wählerisch. Wer
bereits in Thüringen gespeist hatte, dem schmeckte es fast überall. Aber sie
brauchte mehr Nahrung. Sie hatte ein zweites Gelege in diesem Jahr gewagt, und
da musste sie sich Kraft zum Eierlegen anfressen. Mit Interesse sah sie unter
sich im Schilf, wie sich an den Halmen reihenweise Hautflügel entfalteten. Na,
phantastisch! Diese Einladung zum Brunch würde sie gern annehmen. Zielgenau
holte sie sich mit ihrem geübten Schnabel die erste Mücke vom Rohr, und sie
würde nicht eher aufhören, bis sie alle verspeist hatte.
*
Gimli erwachte, weil ihn jemand an der Schulter rüttelte. Das Zimmer
war hell erleuchtet, und er befand sich nicht in seinem Bett. Blitzschnell
stand der kleine Mann auf den Beinen und drückte Gerlinde Rosenbauer eine alte,
rostige Klinge an die Kehle.
Erschrocken hielt sie einen Moment die Luft an. »Gimli, was machst
du da?«, rief sie mit erstickter Stimme.
Gimli stutzte kurz und ließ dann sofort von Gerlinde Rosenbauer ab.
Er steckte das Messer weg und sagte mit leicht entschuldigendem Ton: »Gimli
schlafen. Gimli müde. Gimli gehen.« Dann holte er den kleinen schwarzen
Türöffner heraus und drückte den Knopf des Signalgebers. Mit einem kurzen
Summen öffnete sich die Tür. Er wollte schleunigst verschwinden, doch Gerlinde
Rosenbauer versuchte, ihn festzuhalten. Mit unglaublicher Geschwindigkeit
wirbelte der Zwerg herum und streckte die rostige Klinge nach vorn. Seine Augen
blitzten angriffslustig. »Müssen bleiben. Gimli gehen«, sagte er mit zischender
Stimme.
Gerlinde Rosenbauer versuchte, ihn zu beschwichtigen. »Gimli. Um
Gottes willen. Niemand will dir etwas tun, und wir wollen auch nicht, dass du
uns hinauslässt. Versprochen.«
Der Zwerg schaute sie an, aber er rührte sich nicht von der Stelle.
Gerlinde Rosenbauer schaute zu ihrer Tochter, die sich verängstigt
in die Kissen ihres Bettes verkrochen hatte. Dann wandte sie sich wieder Gimli
zu. »Kleiner Gimli, habe ich oder hat mein Mann dir jemals etwas Böses angetan?
Oder hast du von Theresa jemals ein Leid erfahren müssen? Warum also stellst du
dich vor mich hin und bedrohst mich mit einem Messer?« Ihre Stimme war
nachdrücklicher geworden, und Gimli der Zwerg blickte zu der verängstigten Theresa
hinüber und entspannte sich.
Sein Arm mit dem Messer fiel nach unten, und er sagte: »Theresa
nicht Angst. Gimli nicht böse, Gimli erschrecken.« Dann wandte er sich wieder
zu der großen blonden Frau um, die vor ihm stand. Die Mutter von Theresa. Er mochte
beide wirklich sehr. Aber das durfte er niemals zugeben, die Herren würden ihn
dafür hart bestrafen. Andererseits wollte er nicht, dass Theresa seinetwegen
Angst hatte und dass sie weinte. Seine traurigen Augen wanderten zwischen
Gerlinde und Theresa auf einer einsamen Irrfahrt hin und her.
»Gimli singen für Theresa. Theresa schlafen. Gimli nicht böse, nicht
Angst machen, Theresa. Theresa lieb. Theresa nett. Gimli
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