Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
Geschichten: Vielleicht hatten Indianer die Höhle als letzten Rückzugsposten im Kampf gegen einen verfeindeten Stamm genutzt, oder Siedler hatten sich hier gegen plündernde Indianer verteidigt. Banditen, einen Suchtrupp auf den Fersen, hatten sich hier versteckt und waren verhungert, weil sie nicht mehr herausklettern konnten. Adam wollte nach versteckten Schätzen graben, aber der Boden in der Grube war hart und unnachgiebig und mehr als ein paar Kratzer brachte er nicht zustande. Er fand keine weiteren Knochen mehr, und das war noch so ein Rätsel, das die Grube unwiderstehlich machte.
In der Höhle lagerte Adam überlebenswichtige Vorräte und Utensilien, die er in luftdichte Aufbewahrungstaschen seiner Mutter einpackte: einen Schlafsack, Streichhölzer, Feuerzeuge, Kerzen in allen Größen und Formen, Comichefte, Bücher und Zeitschriften, eine ganze Tüte voller Schokoladentäfelchen, die er für besondere Anlässe aufbewahrte, Getränkedosen mit Limonade, Wasserflaschen. Auch bunkerte er dort Dosen mit seinen Lieblingsgerichten: Thunfisch, Rindseintopf, gebackene Bohnen und Nudeln mit Fleischbällchen in Tomatensoße. Außerdem waren in den Taschen ein Notizblock und Bleistifte, Ersatzkleidung, ein Taschenmesser seines Vaters und zwei Taschenlampen mit Reservebatterien verstaut. Das Beste von allem war eine weitere Taschenlampe mit eingebautem Radio, die sich per Handkurbel immer wieder aufladen ließ. Der einzige Sender, den er empfangen konnte, war der Wetterkanal – und auch nur außerhalb der Höhle –, aber Adam fand selbst das ziemlich cool. Zumindest, als er zehn war. Jetzt hoffte er nur, dass diese Aufbewahrungstaschen ihren Zweck erfüllt und seinen Kram trocken gehalten hatten – und dass niemand seine Sachen hatte mitgehen lassen. Und dass er warm, sicher und erholsam in seinem Schlafsack würde schlafen können. Vielleicht könnte er in seinen alten MAD-Heften lesen. Ob er die wohl immer noch lustig finden würde?
Am Waldrand hielt er inne. Er wusste, dass er sich nicht verlaufen hatte, aber der Wald, der ihm als Kind so einladend und freundlich erschienen war, wirkte jetzt dunkel und bedrohlich. Er riskierte es, die Schlüsselanhänger-Taschenlampe einzuschalten, die er im Safeway hatte mitgehen lassen, aber auch das half nicht. War überhaupt noch irgendetwas so, wie er es in Erinnerung hatte? Es kam ihm plötzlich so vor, als habe er sich in den vergangenen vier Jahren selbst verloren. Nicht nur, dass er erwachsen geworden war. Vielmehr hatte er erkannt, dass er nicht der war, der er immer zu sein geglaubt hatte. Als sei alles ein Traum gewesen – nein, kein Traum, denn wach war er auf alle Fälle gewesen, seine Narben bewiesen das – aber vielleicht ja eine Art Fata Morgana?
Er folgte dem schmalen Lichtkegel, stapfte über abgestorbene Blätter und Schwammpilze und wirbelte den Geruch nach Schierling, Pinien und Verfall auf. Wenn er nicht derjenige war, der er zu sein glaubte, wer war er dann? Mit jedem Fußstapfen klang stets dieselbe Antwort in seinem Kopf nach: Er war der Sohn seines Vaters.
Sein Vater würde das anders sehen. Er hatte es anders gesehen, als er Adam verlassen, ihn wie einen Versager im Stich gelassen und sich mit Morgan im Schlepptau davongemacht hatte. Dies war Adams letzte Chance, seinen Vater eines Besseren zu belehren.
»Wir hätten Megan nicht in die Diskussion miteinbeziehen sollen.«
Lucy öffnete die Flasche mit dem Mundwasser und spülte sich den Mund aus, während Nick neben ihr am Waschbecken seine Zahnseide benutzte. Er war um so vieles geduldiger als sie. Er bearbeitete jeden Zwischenraum zweimal und putzte dann für ganze zwei Minuten, ohne zu schummeln. Lucy benutzte eine elektrische Kinderzahnbürste mit eingebautem Timer, um sich nicht selbst zu belügen. Ihr Zahnarzt meinte, es helfe, die Symptome ihrer Kiefermuskelfehlregulation einzudämmen; und das war wichtig, vor allem deshalb, weil sie ihre Zahnschienen für die Nacht regelmäßig verlor oder zerbrach.
»Nach allem, was im September passiert ist, müssen wir ihr das Gefühl geben, dass sie etwas Kontrolle über ihr eigenes Leben hat. Außerdem ist sie mittlerweile schon dreizehn …«
»Das macht sie nicht gerade zu einer Erwachsenen …«
»Du findest auch, dass ich nicht erwachsen genug bin, um in unsere Diskussion einbezogen zu werden.« Er spannte die Zahnseide ein letztes Mal so stark, dass seine Finger weiß wurden. »Du wolltest, dass ich einfach nachgebe und genau das tue, was
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