Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
Familienhandwerk erlernte. Danach kehrten sie nicht mehr nach New Hope zurück. Adam fragte sich, wie es wohl den anderen Kindern hier ging. Er war immerhin ihr großer Bruder. Er sollte nach ihnen sehen. Dad würde das sicher wollen. Die Familie war alles für Dad.
Im Licht der Mini-Taschenlampe sah Adam auf die Uhr. Es war fast Mitternacht. Eine gute Zeit also, um nach den Kindern zu sehen und dabei unentdeckt zu bleiben. Er war müde, aber je mehr er an seine Halbgeschwister dachte, desto dringender wollte er sie sehen. Seit Monaten hatte er keine wirkliche Verbindung zu irgendjemandem gespürt, vor allem keine Nähe, wie er sie mit Dad erlebt hatte. Ihm fehlte dieses Gefühl so sehr, dass seine Eingeweide schmerzten wie damals in Cleveland, als er nach dem Verzehr von weggeworfenen Essensresten eine Lebensmittelvergiftung bekommen hatte.
Adam schlüpfte wieder in seine diversen Lagen Kleidung und setzte eine schwarze Strickmütze der Pittsburgh Steelers auf, um seine hellen Haare zu bedecken. Die Mütze war ein bisschen eng – das letzte Mal hatte er sie getragen, als er zehn war – aber sie dehnte sich weit genug. Beim Durchsuchen seiner alten Kleidung fand er das erste Armband aus Nylonseil, das er jemals gefertigt hatte. Mrs Chesshir hatte der Klasse beigebracht, wie man die Spezialknoten zu binden hatte. Ein paar der Jungen hatten gelacht und gesagt, es sei wie Stricken. Adam hatte sich in Cleveland über Wasser halten können, weil er diese Armbänder herstellen konnte. Nicht nur, weil er sie für ein paar Dollar auf der Straße verkaufte, sondern weil er etwas zu tun, weil er eine Beschäftigung hatte.
Damals war ihm das Armband zu groß gewesen. Er hatte rund drei Meter Nylonseil benutzt, was natürlich viel zu viel gewesen war. Mittlerweile passte es ihm wie angegossen. Außerdem war es rot. Rot war Dads Lieblingsfarbe. Das musste ein gutes Omen sein. Er streifte es über und steckte ein Messer und das Isolierband, das er aus dem Safeway gestohlen hatte, in seine Hosentasche. Damit sie die Tasche nicht ausbeulte, drückte er die Rolle flach. Immer vorbereitet sein, pflegte Dad zu sagen. Wie die Pfadfinder.
Hinter der Grundschule kam er aus dem Wald und ging die Pine Avenue entlang Richtung Westen. Keine Menschenseele begegnete ihm, und nur in der Ferne sah er die Scheinwerfer eines Autos, das jedoch abbog.
Marty und Darrin wohnten nicht weit voneinander entfernt, aber die Häuser, in denen sie lebten, schienen unterschiedlichen Welten anzugehören. Marty und seine Mutter bewohnten ein einstöckiges Backsteinhaus mit einem kleinen Vorgarten und einem Carport. An einem großen alten Ahornbaum hinten im Garten hing eine Seilschaukel. Darrins Haus stand einsam oben auf dem Hügel. Umgeben von Wäldern blickte es hinunter auf die Stadt. Mit seinen verschiedenen Ebenen sah es wie eine Hochzeitstorte aus und drückte sich eng an den Hang. Es bestand fast ganz aus Glas und Holz und Stahl. Niemand in New Hope mochte das Haus, geschweige denn den Mann von Darrins Mutter, der es gebaut hatte.
Als Adam ungefähr so alt war wie Darrin und Marty, sechs Jahre, wurde seine Mutter erstmals ernsthaft krank und musste operiert werden. Dann kam die Chemotherapie. Dad blieb zu Hause und versorgte sie. Während dieser zwei Jahre beschränkte er seine Arbeit auf Lieferungen in der Region, und er ging erst wieder auf Fernfahrten, als Adams Mutter genug zu Kräften gekommen war, um allein klarzukommen. Adam erinnerte sich noch daran, wie sie geweint hatte, als Dad das erste Mal fortging. Aber dann war er mit einem neuen Fisch zurückgekommen, und alles wurde besser. Mom hatte etwas zu tun, sie konnte sich um den Fisch kümmern, wenn Dad unterwegs war. Manchmal gab es mehr als nur einen Fisch. Dann fing sie an, Dad beim Angeln zu begleiten und ließ Adam allein zu Hause. Adam reimte sich damals zusammen, dass das Ganze etwas damit zu tun haben musste, dass Mom keine Kinder mehr bekommen konnte.
Kinder waren für Dad nämlich sehr wichtig. Dabei beschuldigte er Adam die Hälfte der Zeit, dass er nicht sein Sohn sei. Üblicherweise, wenn Adam irgendeinen Fehler machte. Woraufhin Adam sich noch mehr anstrengte, alles richtig zu machen, so wie Dad es machen würde, damit er stolz auf ihn sein könnte. Wenn ihm das gelang, dann war es besser als Weihnachten, Ostern und Sommerferien zusammen. Ein einziger wunderbarer Moment. Adam hegte jeden dieser Momente, erlebte sie in seiner Erinnerung immer wieder neu und versuchte zu
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